DE: Endokrinologen fordern vereinfachtes Begutachtungsverfahren für Transsexuelle

10. September 2017 | Diabetes, News Deutschland | 0 Kommentare

Leichter die „geschlechtliche Seite“ wechseln gelingt mit guter therapeutischer Begleitung

Berlin – Wer in Deutschland das Geschlecht von Mann zu Frau oder umgekehrt wechseln möchte, hat große „bürokratische Hürden“ zu überwinden noch bevor eine Behandlung beginnt. Mindestens zwölf Monate Alltagstest und Psychotherapie als Voraussetzung hält die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) für unangemessen und zu lang. Dieses Prozedere widerspricht neuen internationalen Leitlinien zu „Geschlechtsinkongruenz“, die in der neuen ICD-11 voraussichtlich nicht mehr als psychische Erkrankung klassifiziert werden wird. Gemessen an dem hohen Informationsbedarf gibt es zudem zu wenig Beratungsstellen und zu wenig Experten, die sich mit dem Thema Identitätswechsel und Therapie auskennen.

Wenn sich ein Mann oder eine Frau in seinem oder ihrem Körper nicht “zuhause” fühlt und die körperlichen Merkmale nicht mit der empfundenen Geschlechtszugehörigkeit übereinstimmen, können häufig psychische Belastungen entstehen. „Das Gefühl, nicht zu dem eigenen anatomischen Geschlecht zu passen, führt zu Unbehagen: Experten sprechen von Geschlechtsinkongruenz. Die Betroffenen haben häufiger als andere Depressionen, Suizidgedanken, Angststörungen oder Probleme mit Suchtmitteln“, sagt Professor Dr. med. Sven Diederich, Ärztlicher Leiter Medicover Deutschland aus Berlin. „Ursache dafür sind meist nicht etwa psychische Störungen, sondern die Diskriminierung der Gesellschaft und die Hürden im Gesundheitswesen“, so Diederich, der auch Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) ist.

Geschlechtsidentität ist die von jedem Menschen individuell empfundene Geschlechtszugehörigkeit. Stimmt diese nicht mit den körperlichen Merkmalen überein, kann mit einer Hormonbehandlung und Operationen in das andere gewünschte Geschlecht „gewechselt“ werden. Das ist kein einfacher Vorgang, sondern ein komplexer monatelanger Prozess, der viel Wissen und Erfahrung aufseiten der Behandelnden voraussetzt und der/dem Betroffenen körperlich und psychisch viel abverlangt.

Anders als in anderen Ländern wie beispielweise Irland, wo eine Selbstdiagnose ausreicht und gesetzlich verankert ist, müssen die „Wechselwilligen“ hierzulande mindestens zwölf Monate Psychotherapie und zwölf Monate Alltagstest vor dem Beginn einer Behandlung für die Zulassung zu Körperveränderungen vorweisen. Bei der „Alltagserprobung“ soll die/der Betroffene über den gesamten Zeitraum und in allen Bereichen ihres/seines Lebens in dem gewünschten Geschlecht leben, um die „neue“ Geschlechterrolle zu erproben, so verlangen es die Kassen. „Das widerspricht allen neuen internationalen Leitlinien und muss geändert werden“, fordert Diederich.

Wie viele Menschen sich wünschen, als Angehöriger des anderen Geschlechts zu leben und anerkannt zu werden, wird unterschiedlich geschätzt. „Wir gehen von mindestens 0,5 Prozent aus. Für diese große Gruppe von bis zu 400.000 Menschen in Deutschland stehen zu wenige Experten zur Verfügung“, beklagt Diederich. Da zu wenig versierte Psychologen/Psychiater, Hormonexperten (Endokrinologen; spezialisierte Gynäkologen und Urologen) und plastische Chirurgen vorhanden sind, experimentierten zahlreiche Betroffene mit Substanzen. Diese Selbstmedikation ist riskant.

Dass es mit einem vereinfachten Begutachtungsverfahren nicht getan ist, ergänzt Professor Dr. med. Matthias Weber, Mediensprecher der DGE: „Es gibt noch immer sehr viele Vorurteile in der Bevölkerung gegenüber Transgender-Menschen. Wir brauchen mehr Aufklärung in der Gesellschaft, aber auch mehr Beratungsstellen für die Betroffenen.“ Auch die Kompetenzen der Behandelnden müssen ausgebaut werden. „Das Thema Transidentität gehört in die Ausbildung von Medizinern ebenso wie in die Fort- und Weiterbildung von Ärzten und Psychologen“, so Weber, Leiter der Endokrinologie und Diabetologie der Universitätsmedizin Mainz.

Die Fachgesellschaft fordert, den Mangel an geeigneten Experten zu beheben und die Hürden für Menschen, die ihr Geschlecht wechseln möchten, zu senken. „Die Selbsteinschätzung und die Begutachtung eines in diesem Bereich versierten Psychologen müssen reichen“, resümieren die DGE-Experten.

Anlässlich des 2. Deutschen Hormontages am 16. September 2017 findet am 13. September 2017 in Berlin eine Pressekonferenz der DGE statt. Weitere Themen sind: „Trendwende: Hormontherapie bei Wechseljahresbeschwerden“, „Endokrine Disruptoren (Umwelthormone) stören das Hormonsystem: Reichen die neuen EU-Kriterien zum Schutz der Bevölkerung aus?“ und „10-Punkte-Programm für eine sinnvolle Diagnostik und Therapie in der Endokrinologie.“

Literatur:

Winter, S et al: Transgender people: health at the margins of society. Lancet 2016; 388: 390-400.

Reisner, SL et al: Global health burden and needs of transgender populations: a review.
Lancet 2016; 388: 412-36.

Morgan, J: Self-determing legal gender: transgender right, or wrong? Lancet Diabetes Endocrinol 2016, 4: 207-208.

AWMF S3 Leitlinie Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie, zurzeit noch nicht endgültig veröffentlicht, im Bearbeitungsprozess.

Wyley, K et al: Serving transgender people: clinical care considerations and service delivery models in transgender health. Lancet 2016; 388: 401-11. 

Beratungsstellen:

Netzwerk Trans*-Inter*-Sektionalität (TIS)

Autor

  • Markus Golla

    Studiengangsleiter "GuK" IMC FH Krems, Institutsleiter Institut "Pflegewissenschaft", Diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger, Pflegewissenschaft BScN (Umit/Wien), Pflegewissenschaft MScN (Umit/Hall)