DE: Das Thema Wunde verbindet und bewegt

11. Januar 2020 | Diabetes, News Deutschland | 0 Kommentare

Nürnberg. Im Dezember erlebte der Nürnberg Wundkongress seine zweite und erneut sehr gelungene Auflage. Wieder nutzten knapp 1400 Mediziner und Pflegefachkräfte die Chance zur wissenschaftlichen Fortbildung beim komplexen Thema Wundversorgung sowie zum kollegialen Austausch untereinander.

Herausforderungen und Hürden der Versorgung von Menschen mit chronischen Wunden wurden offen diskutiert, verschiedene erfolgreiche Modelle interdisziplinärer und interprofessioneller Zusammenarbeit analysiert, aktuelle Daten vorgestellt, neue Erkenntnisse und vielversprechende Entwicklungen präsentiert. Vor allem zeigt der „Wuko“ einmal mehr, dass „die Wunde“ vieler engagierter Experten sicher sein darf, die gemeinsam etwas bewegen können. WUNDEN – so zeigte sich und so hatte der diesjährige Kongresspräsident Prof. Dr. med. Erwin Schultz (Nürnberg) der Tagung als Motto eingeschrieben – VERBINDEN. Unter den Schirmherrschaften der Deutschen Gesellschaft für Wundheilung und Wundbehandlung e. V. (DGfW), der Initiative Chronische Wunden e. V. (ICW) und des Klinikums Nürnberg mit der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität bot der 02. Nürnberger Wundkongress Ärzten und Fachkräften aller an der Wunde beteiligten Disziplinen und Professionen ein vielseitiges Update von aktuellen Standards bis zu innovativen Lösungen. 13 Hauptsitzungen sowie 73 Seminare und Workshops hielt das abwechslungsreiche Tagungsprogramm vor.

Plasma: initiiert die Wundheilung, schiebt stagnierende Wunden neu an

Zu den Highlights im wissenschaftlichen Bereich zählte in diesem Jahr die plasmamedizinische Versorgung chronischer Wunden. Prof. Dr. med. Steffen Emmert (Rostock) erläuterte den Stand der Entwicklungen und bisherige Erfahrungen im klinischen Alltag. In der Klinik und Poliklinik für Dermatologie und Venerologie der Universitätsmedizin Rostock hat Plasma seit 2016 einen festen Platz im Rahmen der Standardversorgung. Kaltes Atmosphärendruckplasma, so Emmert, wirke hocheffektiv gegen Bakterien, Viren und Pilze und selbst gegen multiresistente Keime, die Anwendung sei dabei vollkommen kontaktlos, schmerzfrei und denkbar einfach. Die Behandlung einer quadratzentimetergroßen Wunde dauert nicht länger als eine Minute. Genug, die Keimlast deutlich zu senken. Auch werde so der ph-Wert reduziert und die Geweberegeneration gefördert. Hauptsächlich schienen Stickstoffspezies dafür verantwortlich, indem sie die Fibroblasten zur Zellteilung anregen, so Emmert. Etwa für vier Stunden nach der Plasmabehandlung sei zudem die Hautdurchblutung erhöht. „Die Plasmamedizin ist eine sehr innovative Ergänzung, weil sie mehrere Wirkprinzipien in einem vereint und verschiedene günstige Effekte auf die Wunde zugleich erzielt“, sagt Emmert. Bisherige Daten weisen darauf hin, dass Plasma insbesondere die Wundheilung initiiert bzw. stagnierende Wunden neu anschiebt.

Von „Urlaubskeimen“, Akne inversa, Nekrotisierender Fasziitis

Weitere Schwerpunkte des 02. Nürnberger Wundkongresses reichten von „Klassikern“ der Wundversorgung wie dem Diabetischen Fußsyndrom bis zu Wunden, die in deutschen Krankenhäusern eher selten zu versorgen sind wie Spreng- und Kriegswunden. Prof. Erwin Schultz, Ärztlicher Leiter der Klinik für Dermatologie der Universitätsklinik der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität, rückte zudem speziell dermatologische Fragestellungen in den Fokus wie die Akne Inversa, Exfoliative Hauterkrankungen, Wundinfekte durch „Urlaubskeime“ oder seltene Ursachen des Ulcus cruris. Auch die Nekrotisierende Fasziitis stand mehrfach auf dem Programm. Die sehr heftig verlaufende bakterielle Infektion des Unterhautgewebes und der Faszien, die in diesem Fall als eine Art „Autobahn der Keime“ fungiert, war in diesem Jahr wegen mehrerer Todesfälle in der Ostsee infolge von Wundinfekten mit Vibrionen in den öffentlichen Medien präsent. Deutlich häufiger wird der dramatische Gewebeniedergang mit rasch drohendem Organversagen durch Streptococcus pyogenes oder bakterielle Mischinfektionen verursacht. Insgesamt zwar selten, stellt die Erkrankung, die besonders chronisch kranke und immungeschwächte, aber auch völlig gesunde Menschen treffen kann, Ärzte vor eine enorme Herausforderung. Die Anfangssymptome – starke Schmerzen im betroffenen Bereich, grippeähnliche Anzeichen oder Hautrötungen und -schwellungen – lassen kaum unmittelbar die rechten Schlüsse zu. Doch bleiben nur wenige Tage oder Stunden, um die Patienten zu retten. Unerkannt liegt die Sterberate bei über 70 Prozent. Fragen zur Diagnostik und Behandlung, zum mikrobiellen Keimspektrum, zu Möglichkeiten einer anschließenden plastischen Rekonstruktion wurden diskutiert und Fallbeispiele erörtert – insbesondere mit dem Fazit: nicht zu spät an das Krankheitsbild zu denken.

„Wir sind nicht so modern, wie wir uns vorstellen“

Viel Beachtung erfuhr auch das Schwerpunktthema „Neue Biomaterialien für die Wundversorgung“. Die Biologin Dr. Sarah Strauß (Hannover), Leiterin des Kerstin Reimers Labors für Regenerationsbiologie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), bot hier einen spannenden Einblick in die Forschung zu dem Amphibienenzym AmbLOXe, das nach Erkenntnissen der Wissenschaftler für die beispiellose Regenerationsfähigkeit des mexikanischen Schwanzlurches Axolotl verantwortlich ist. Die Tiere, die ganze Gliedmaßen voll funktionsfähig erneuern können, gelten als wahre Wunderheiler, deren Geheimnissen man auf den Grund zu gehen und sie für die für die moderne Medizin nutzbar zu machen sucht. Die Expression des Enzyms AmbLOXe, erläuterte Sarah Strauß, sei in regenerierendem Gewebe der Tiere stark erhöht. In vitro habe man auch bereits an menschlichen Zellen zeigen können, dass sich mit AmbLOXe ein Wundspalt schneller verschließt. Zusammen mit Kollegen aus der technischen Chemie wurde das Enzym unterdessen in rekombinanten Escherichia- coli-Bakterien hergestellt. In Zukunft könnte es so als Bestandteil von Hydrogelen oder Wundauflagen die Wundheilung auch beim Menschen beschleunigen, skizzierte Strauß denkbare Anwendungen. Der Lurch blieb nicht das einzige Beispiel aus der Natur, an dem die Medizin sich gewiss gern etwas abgucken würde.

„Tradition vs. Moderne – Wie modern sind unsere Wundversorgungskonzepte eigentlich noch?“ – Unter diesem Titel resümierte PD Dr. Cornelia Erfurt Berge (Erlangen) den Stand der Dinge und die Zukunftsfähigkeit mancher revolutionär anmutenden Entwicklungen. Beispiel intelligente Wundverbände: „Wir werden Fasern im Nanobereich einbauen, die uns Informationen direkt aus der Wunde liefern.“ So könne der Verband direkt ans Smartphone des Patienten – besser noch: des Pflegedienstes – melden: Ich möchte gewechselt werden! Die Parameter zu erheben sei nicht das Problem, so Erfurt-Berge. „Aber noch wissen wir nicht, welches ist die optimale Temperatur, der ideale pH-Wert? Und kann ein Pflegedienst dann überhaupt so flexibel sein?“ Beispiel neue Bioprodukte für Hautersatzverfahren: Die azellulären Matrizen aus Fischhaut etwa, wie sie inzwischen in Deutschland – ob bemerkenswerter Effekte einerseits, hoher Kosten andererseits – verhalten Fuß fassen, bündeln unbestritten viele Vorteile biologischer Produkte: Sie sind hochkompatibel, abbaubar, lösen kaum eine Immunantwort aus, haben viele positive Funktionen und vereinen oft verschiedene günstige Effekte in einem. „Andererseits habe ich als Dermatologin das Problem, dass ich diese problematischen Wunden nicht in einem Zustand sehe, in dem ich das anwenden könnte“, so Erfurt-Berge. „Haben wir das Grundproblem nicht im Griff, helfen die teuren Produkte uns nicht.“ Ein noch immer unbefriedigendes Bild der Realität ergibt eine Analyse der Patienten bei Erstvorstellung im Wundzentrum Erlangen: Im Mittel besteht das Ulcus Cruris bereits 22 Monate. 55 Prozent kommen ohne klare Diagnose, fast jeder Zweite ohne vaskuläre Basisdiagnostik, nur 40 Prozent erhalten bis dahin eine korrekte Kompression. „Wir sind nicht so modern, wie wir uns vorstellen“, so Erfurt-Berge.

„Time is Bein!“

Die Kritik an bestehenden, zum Teil erfolgsbremsenden Strukturen begleitete freilich viele Referate und Diskussionen beim „Wuko“. Die Leidensgeschichte manch Betroffener zwischen Hausärzten, Fachärzten, häuslicher Pflege, Krankenhäusern und Krankenkassen ließe sich oft bestenfalls als „chaotisch“ beschreiben, sagt der Internist und Diabetologe Dr. med. Günter Kraus (Memmelsdorf/Drosendorf). Und dabei gilt doch – mit den Worten des Vorsitzenden der AG Fuß der Deutschen Diabetes Gesellschaft Prof. Dr. med. Ralf Lobmann (Stuttgart): „Time ist Bein!“

Sehr gute Beispiele gelingender interdisziplinärer und interprofessioneller Zusammenarbeit im Kampf gegen chronische Wunden und für eine generelle Verbesserung der Versorgungssituation ließen sich beim Wundkongress kennenlernen. Das Wundzentrum am Klinikum Nürnberg ist nur eines, das in der klaren Sprache der Zahlen beweist, dass die Implementierung disziplinen- und fachübergreifender Kooperation und geteilter Standards sich unbedingt lohnt. Doch um erfolgreiche Modelle zu studieren, muss der Blick nicht zwingend in ein Haus der Maximalversorgung gehen. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Akutkrankenhaus schilderte sehr anschaulich die Pflegeexpertin Astrid Probst für die Kreiskliniken Reutlingen mit 2000 Beschäftigten und der, so Probst, „niedrigsten Amputationsrate in Baden-Württemberg“. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Kommunikation, sagt die Wundmanagerin. „Sie brauchen ein gut organisiertes Team und einer muss den Hut aufhaben. Einer, dessen Kompetenz von alle anderen anerkannt wird!“

Einen weiteren Ansatz stellte Dr. Günter Kraus mit dem Fußnetz Bayern vor, dessen zentralen Baustein eine web-basierte Patientenakte bildet, in der alle beteiligten Versorger nach klaren Vorgaben arbeiten. Zugrunde liegt die Überlegung, dass im Netz der verschiedenen Behandlungswege und -ansätze zu viele Informationen verloren gehen, mehrfach erhoben oder nicht einheitlich in Konsequenzen umgemünzt werden, was eine Verschwendung von Zeit und Ressourcen darstellt, den Patienten aber nicht weiterbringt. Ein Problem, welches auch die die Deutschen Gesellschaft für Wundheilung und Wundbehandlung e. V. (DGfW) übergeordnet zu ändern sucht und ein entsprechendes umfassendes Konzept zur Überwindung bestehender Systemhürden vorstellte. – Um nur ein Beispiel zu nennen für das inhaltlich bereichernde Engagement von insgesamt 20 kooperierenden Fachgesellschaften und Verbänden in Form von Vorträgen und Workshops beim Nürnberger Wundkongress.

So bot das umfangreiche und sehr gut genutzte Workshop-Angebot unterschiedlichste Gelegenheiten, spezielles Know-how zu studieren und auszuprobieren: Es wurde debridiert (unter anderem mit Goldfliegenlarven), druckverbunden, diagnostiziert und dokumentiert, es wurden arterielle Drücke gemessen, diverse Wundauflagen sondiert oder Tipps zur psychischen Hygiene oftmals stark strapazierter Pflegekräfte vermittelt.

„Ein erfolgreiches Konzept, an das ich sehr gerne anknüpfe!“

Für Tagungsleiter Prof. Erwin Schultz hat sich das Modell „Wuko“ bei der zweiten Auflage absolut bewährt. „Mein Vorgänger Prof. Bert Reichert hat ein erfolgreiches Konzept auf den Weg gebracht, an das ich sehr gern anknüpfe“, sagte er zur Kongresseröffnung – und resümierte hinterher eine rundum gelungene Veranstaltung. Gemäß der Wuko-Konzeption rotiert die Tagungsleitung unter den beteiligten Fachgebieten. Für 2020 – das lohnt sich in jedem Fall schon heute vorzumerken –, findet der 03. Nürnberger Wundkongress vom 3.-5. Dezember unter der wissenschaftlichen Leitung von Univ.-Prof. Dr. med. Hermann Josef Bail statt, seines Zeichens Leiter der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität. Das zentrale Anliegen interdisziplinärer und interprofessioneller Fortbildung und Vernetzung erfährt so mit jedem Jahr eine neue wissenschaftliche Akzentuierung. Das macht den Reiz des „Wuko“ aus. WUNDEN VERBINDEN. – Bleibt hinzuzufügen: … und bewegen! Das hat die erneut große Resonanz 2019 gezeigt.

Autor:in

  • Markus Golla

    Studiengangsleiter "GuK" IMC FH Krems, Institutsleiter Institut "Pflegewissenschaft", Diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger, Pflegewissenschaft BScN (Umit/Wien), Pflegewissenschaft MScN (Umit/Hall)