Wer sich gegenwärtig mit dem Begriff der Heimat beschäftigt, der ist sich kritischer Blicke sicher. Eine große Verunsicherung steht im Raum, weil der Heimat-Begriff des politischen Missbrauchs verdächtig ist. Der Kulturwissenschaftler Jürgen Hasse sowie die Autorinnen und Autoren um ihn herum setzen sich in dem Buch „Das Eigene und das Fremde“ sehr grundsätzlich damit auseinander. Man glaubt es nicht, der Diskurs um die Heimat kann Spaß machen.
Die Autorinnen und Autoren um Kulturwissenschaftler Hasse sind Protagonistinnen und Protagonisten der „Neuen Phänomenologie“. Sie thematisiert im philosophischen Kontext, was der einzelne Mensch vor der theoretischen Auseinandersetzung am eigenen Körper spürt. Den Brückenschlag von dem Spüren am eigenen Körper zur tiefgründigen philosophischen Auseinandersetzung versuchen sie oft aus eigenen Erfahrungen heraus. Das Buch ist kein Versuch, aus dem Elfenbeinturm den Menschen der Gegenwart zu sagen, was zu sagen und zu fühlen ist.
Der Wegbereiter der „Neuen Phänomenologie“, Hermann Schmitz, stellt fest: „Wenn ein Mensch als Kosmopolit einfach überall und gleichmäßig wohnen kann, dann entgeht ihm ein großer Teil der Möglichkeit, seine Persönlichkeit zu konsolidieren durch Einbettung in eine persönliche Eigenwelt, in der seine Persönlichkeit, seine persönliche zuständliche Situation gedeihen kann“ (S. 38). So gibt Schmitz bereits ein deutliches Statement für den Heimat-Begriff ab. Jürgen Hasse hingegen verbindet mit Heimat „ambivalente Gefühle“. Heimat als Ort sei ein „Drehpunkt sozialer Beziehungen“ (S. 42). In Anlehnung an Ludger Hagedorn beschreibt er „Heimat als einen Ort, den ich als Mensch am stärksten durchdrungen habe, wo die Dinge fast schon unsere Lebensorgane sind“ (S. 43).
Durch die zahlreichen Beiträge hindurch trägt sich die Darstellung, dass Heimat mehr als der Ort der Geburt und der Lebenskultur ist. Dies macht die Leserin und den Leser nicht nur nachdenklich. Sie und er sind gefordert, in das Denken Hasses sowie seiner Mitstreiterinnen und Mitstreiter einzuschwingen. Sicher weckt das Einschwingen persönliche Erinnerungen, die es in einem neuen Lichte zu reflektieren gilt. Hasse unterstreicht, dass Heimat aus Vertrautheit und Selbstverständlichkeit erwachse. Das Fremde diene als Kontrastmittel, „um im Differenzerleben das Eigene zu festigen“ (S. 51).
Die zahlreichen Beiträge des Buchs sind Raststätten des Denkens an und für sich. Der Philosoph Gernot Böhme sieht den Fremden als den Gast, der bleibe. Die Philosophin Nina Trcka sinniert über den Heimatverlust und die Heimatlosigkeit. Karen Joisten stellt sich einem oft unberührten Thema: „Heimisch in der Fremde – Fremdsein im Heimischen?“
Nina Trcka legt den Fokus auf die Entwurzelung des Menschen, der die Heimat verlasse, um in die Fremde zu gehen. Sie betont, dass Entwurzelung auch die Daheimgebliebenen betreffe. Der gemeinsame Boden, in dem die Vertriebenen und die Daheimgebliebenen wuzelten, sei aufgerissen und der Zerstörung preisgegeben. Der Boden, der für die Gemeinschaft stehe, könne weggespült werden – gleich einer Erosion (S. 109 / 110).
Das Buch „Das Eigene und das Fremde“ ist ein deutliches Zeichen dafür, dass Migrationserfahrungen – aus welchem Grunde auch immer – einer tiefgründigen Reflexion bedürfen. Diese Denkarbeit sollten alle diejenigen leisten, die in irgendeinem Kontext migrationserfahrenen Menschen begegnen.
Jürgen Hasse (Hrsg.): Das Eigene und das Fremde – Heimat in Zeiten der Mobilität, Verlag Karl Alber, Freiburg im Breisgau 2019, ISBN 978-3-495-49029-7, 256 Seiten, 36 Euro.