Deutschland im Jahr 2019: Wir befinden uns in einer äußerst unruhigen Zeit. Rechtspopulismus und -extremismus scheinen in der Gesellschaft mehr oder weniger salonfähig zu sein. Klimaschutz wird nicht ernst genug genommen. Das Gesundheitswesen geht immer mehr den Bach hinunter. Manchmal scheint es so, als drehe sich jeder nur noch um sich selbst. Was wurde nur aus Tugenden wie Offenheit, Akzeptanz, Respekt, Wertschätzung, Solidarität, Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit?
Psychiatrie am Scheideweg
Neben dieser Frage müssen sich die psychosoziale Versorgung und vor allem die Psychiatrie einigen Fragen stellen:
– Was macht die heutige Psychiatrie aus?
– Was hat sich seit der Psychiatrie-Enquete 1975 nachhaltig verbessert? Wo gab es zuletzt wieder Rückschritte?
– Wie steht es um eine menschliche und menschenwürdige Behandlung?
– Was ist aus der Maxime „Ambulant vor stationär“ geworden und warum breiten sich ambulante Versorgungsangebote (auch für akute Krisenzeiten) nur so zögerlich aus?
– Warum bestimmen Begriffe wie Medikalisierung (Pathologisierung von Normalitäten, Diagnoseninflation), Biologisierung, Pharmakotisierung, Polypharmazie oder Stigmatisierung noch immer das Geschehen?
– Bedarf es einer neuer Psychiatrie-Reform?
Fragen über Fragen, die auf zufriedenstellende Antworten warten. Die Psychiatrie befindet sich an einem Scheidweg. Zwischen paternalistischer Fürsorge professioneller Helfer und dem Autonomiebedürfnis Betroffener steht die Sorge von Angehörigen und der Gesellschaft. Dies verdeutlicht, dass eine nachhaltige Veränderung und Verbesserung wohl nur gemeinsam im Trialog, der gemeinsamen Begegnung auf Augenhöhe und Wertschätzung der jeweiligen Personengruppe als eigene Experten (durch Erfahrung, durch Miterleben oder durch Fachwissen), im gemeinsamen Austausch mit der Gesellschaft und anschließend entsprechenden politischen Reglementierungen gelingen kann.
Nach bisher eher misslungenen oder nur teilweise umgesetzten Top-Down-Versuchen (z. B. Gesetze wie die UN-Behindertenrechtskonvention oder das Bundesteilhabegesetz) muss die Veränderung wohl eher von der Basis kommen – von Betroffenen und ihren Angehörigen sowie den Menschen, die noch direkt mit Menschen arbeiten und nicht hinter einem Schreibtisch oder in einem Forschungslabor verschwunden sind. Dabei müssen Omnipotenzgefühle abgebaut werden und besserwisserische Profilneurotiker von ihrer zu einseitigen Denkweise über das Konstrukt „Psychische Krankheit“ abkommen. Es bedarf Menschen, die sich ernsthaft für die Menschen interessieren, die sich in Krisenzeiten an sie wenden. Menschen, die versuchen, sie zu verstehen, ihnen beistehen, die für sie da sind und ihnen auf Augenhöhe begegnen.
Eine Frage der Haltung
Die Arbeit mit Menschen, die aufgrund einer psychischen Krise Hilfe suchen, muss von einer gewissen Grundhaltung geprägt sein, die auf Empathie, Respekt, Akzeptanz, Toleranz und Wertschätzung beruht. Hier müssen sich wieder einige Fragen gestellt werden, die beantwortet werden wollen:
– Welches Menschenbild liegt uns eigentlich zugrunde?
– Steht der Mensch wirklich noch im Mittelpunkt der Arbeit?
– Was verstehen wir unter dem Begriff „psychische Erkrankung“?
– Warum begehren wir nicht mehr gegen Ungerechtigkeiten und Fehlentwicklungen auf?
Es ist äußerst wichtig, sich die humane Grundhaltung zu bewahren und weiter für den menschlichen Umgang innerhalb der Psychiatrie zu kämpfen. In diesem Zusammenhang sollte eine möglichst ganzheitliche Sichtweise zum Ziel werden. Die Psychiatrie muss sich von der immer noch teilweise vorhandenen, zu einseitigen biomedizinischen Sichtweise hin zu einer individuellen, ressourcen- und empowermentorientierten, bedürfnisangepassten, salutogenetischen, recoverybasierten, bio-psycho-sozialen Herangehensweise unter Einbezug des jeweiligen Kontexts entwickeln.
Dazu müssen sich das vorherrschende Krankheitsverständnis hinterfragen lassen und anthropologische Ansätze mehr an Beachtung gewinnen:
– psychische Störungen sind menschliche Phänomene und können jeden Menschen treffen
– jeder Mensch ist ein einzigartiges Individuum und reagiert anders
– Krisen können Chancen sein für Wachstum, Reifung und Veränderung
– es gibt keine hoffnungslosen Fälle
– Symptomfreiheit muss nicht immer zwangsläufig das hochrangigste Ziel sein
– Wie möchten wir, dass uns begegnet wird, wenn wir in eine psychische Krise kommen?
Auch die offene Türe der Akutpsychiatrie sollte zur Selbstverständlichkeit werden und trägt wesentlich zur Entstigmatisierung bei. Leider wird der Großteil akutpsychiatrischer Stationen noch immer (oder zumindest für die meiste Zeit) geschlossen geführt. Dies ist ebenfalls eine Frage der Haltung, die zwingend hinterfragt werden muss. Allerdings benötigt es hier auch einer ausreichenden Personalausstattung und der Schulung in deeskalierenden Maßnahmen.
Personalknappheit
Die WHO hat das Jahr 2020 als das Jahr der Pflege ausgerufen. Ob dies etwas an der Aufwertung dieses Berufes ändern mag, wird sich zeigen. Eine kürzlich erschienene Ver.di-Umfrage liefert Einblicke in die Dramatik der Personalknappheit innerhalb der Psychiatrie. Der Zeiger im Versorgungsbarometer steht noch knapp im Feld „Unzureichende Versorgung, Gefährdungsanzeige stellen“. Das anschließende Feld trägt die Bezeichnung „Beziehungsarbeit nicht mehr leistbar, Burnout droht“ (Ver.di, 2019). Wenn in der Psychiatrie die Beziehungsarbeit nicht mehr leistbar ist, scheint die Messe gelesen zu sein, denn die Beziehungsarbeit und -gestaltung sollte dort an erster Stelle stehen.
Dies ist eine äußerst dramatische Entwicklung, denn Zeit und eine bedingungslose, ehrliche, liebe- und verständnisvolle Zuwendung scheinen oftmals die heilsamsten Umgangsformen in der Behandlung und Begleitung von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen zu sein. Wo soll es hinführen ohne ausreichend Personal und Zeit? Viele gut gemeinte Gesetzesänderungen sind schwierig realisierbar, wenn nicht genug Personal vorhanden ist. Autonomieeinschränkungen und Zwang müssen die Ultima Ratio sein. 1:1-Betreuungen bei fixierten Patienten mögen mit Sicherheit ein Schritt in Richtung Humanität sein. Aber was hilft es, wenn nicht ausreichend und vor allem kein richtig ausgebildetes und geschultes Fachpersonal vorhanden ist? Wohin der Einsatz von sogenannten „Sicherheitsdiensten“ führt, zeigen jüngste Beispiele.
Zuletzt waren die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) für die Nachfolgeregelung der Personalordnung Psychiatrie (PsychPV) ein heftiger Schlag ins Gesicht für alle Betroffenen, Angehörigen und professionellen Helfer. Wenn wir nicht aufpassen und uns dagegen wehren, könnte es passieren, dass wir wieder zurück in Richtung „Verwahrungsanstalt“ steuern. Das darf nicht sein!
Ökonomisierung des Sozialen
Es heißt häufig, dass Wettbewerb das Geschäft belebt. Wie steht es dabei mit Privatisierungen von Kliniken? Bleiben durch Einsparungsmaßnahmen und Gewinnmaximierung nicht die eigentlichen Aufgaben der Klinik auf der Strecke? Auf wessen Kosten geschieht das? Warum müssen Krankenhäuser überhaupt Gewinne erwirtschaften? Kritiker vergleichen hier gerne mit Berufen wie der Polizei oder der Feuerwehr, die für ihre Arbeit zum Allgemeinwohl der Menschen auch keine Gewinne erwirtschaften. Ich glaube, dass sowohl im System Psychiatrie als auch in unserer Politik, aber auch der Gesellschaft noch viele Denkfehler vorherrschen, die es zu aufzulösen gilt.
Partizipation
Die Psychiatrie darf Begrifflichkeiten wie Empowerment, Recovery oder Partizipation nicht als Aushängeschilder zu Werbezwecken für Internetauftritte oder in Hochglanzbroschüren zweckentfremden, sondern muss diese uneingeschränkt umsetzen und leben. Die Compliance, bei der ein Betroffener befolgen soll, was ihm der professionelle Helfer vorgibt, muss von der Adhärenz abgelöst werden, wobei gemeinschaftlich nach möglichen Zielen gesucht wird. Dabei spielt beispielsweise die Ambiguitätstoleranz eine wichtige Rolle. Profis müssen lernen, Unsicherheiten auszuhalten und den psychisch beeinträchtigten Menschen trotzdem empowermentorientiert auf seiner Genesungsreise zu unterstützen. Der Fokus liegt dabei auf der Stärkung der Autonomie, (wieder) selbst Verantwortung für Entscheidungen bzw. das eigene Leben zu übernehmen.
Betroffene müssen als Experten in eigener Sache wahr- und ernstgenommen werden. Nur sie können ihre subjektiven Erfahrungen und Erlebnisse schildern. Profis können vieles aus fachlicher Sicht erklären. Sie können aber meist nicht nachempfinden, wie es sich anfühlt, wenn man morgens so antriebslos ist, dass man es nicht schafft, aus dem Bett zu kommen, wenn die Gedanken so stark um eine Sache kreisen, dass man nicht schlafen kann oder an Suizid denkt. Oder auch, wie es ist, Stimmen zu hören, in einem Wahn von etwas felsenfest überzeugt zu sein oder bestimmte Nebenwirkungen von Medikamenten zu verspüren. Dies können nur Betroffene. Deshalb ist es wichtig, sie besser und partnerschaftlich miteinzubeziehen – auch in die künftige Entwicklung der Psychiatrie – in Form von Genesungsbegleitung, in Klinischen Ethik-Komitees oder in die Qualitätssteuerung.
Um dies zu ermöglichen, scheint eine regelmäßige Reflexion der eigenen Denk- und Handlungsweise unabdingbar. Ein großes Problem der stationären Psychiatrie ist, dass der „kranke“ Mensch nur in „Krankheitsphasen“ erlebt wird und sehr selten auch in „gesunden“ Phasen außerhalb der Klinik im eigenen Lebensumfeld. Dies verengt die Sichtweise. Hausbesuche und trialogische Veranstaltungen können zur Erweiterung des Blickwinkels einen wichtigen Beitrag leisten.
Evidenzbasierung und Alternativen
Die Evidenz von Behandlungsmaßnahmen spielt aktuell eine äußerst wichtige Rolle und ist hinsichtlich der Professionalisierung und Transparenz eine wichtige Sache. Allerdings führt es häufig dazu, dass dadurch Alternativen außer Acht gelassen werden und Wünsche von Betroffenen keine Berücksichtigung finden. Viele wichtige weiche Faktoren wie die Empathie lassen sich beobachten, aber schwer messen. Dabei stellen genau diese weichen Faktoren (um weitere zu nennen: Respekt, Wertschätzung, Akzeptanz, Toleranz, Solidarität, ehrliches Interesse) die Basis der Arbeit dar – einer Arbeit von Menschen für und mit Menschen. Ohne diese Kernelemente brauchen wir uns gar nicht über eine humane Psychiatrie unterhalten. Sie wird sonst schlichtweg unmöglich. Daher hilft hier noch so wenig Evidenzbasierung von Therapie- und Behandlungsformen. Jeder Mensch ist ein absolut einzigartiges Individuum und jeder reagiert auf die entsprechenden Therapiemethoden und -formen unterschiedlich. Wichtig ist, dass er verschiedene Wahlmöglichkeiten hat und sich an seinen Bedürfnissen orientiert wird.
Zum anderen lässt sich feststellen, dass häufig Willkür im Spiel ist. In Leitlinien von Fachgesellschaften finden sich als Therapieempfehlungen Vorgehensweisen, die keine Evidenzbasierung vorweisen können sowie Off-Label-Behandlungsempfehlungen. Hierbei scheinen Psychiater allerdings weniger Probleme zu haben, als wenn jemand sich nach alternativen Behandlungsmethoden erkundigt bzw. diese einfordert. Dort heißt es dann im freundlichsten Fall, dass es keine Evidenzbasierung gibt. Zumeist werden Alternativen aber (leider) als Humbug, Schwachsinn oder Scharlatanerei abgetan. Auch vielen anderen Methoden abseits der Pharmakotherapie wird nicht die Wertigkeit zugemessen, die sie eigentlich verdienen (z. B. Ernährung und Bewegung). Diese Dinge spülen eben keine Euros in die Kassen der Pharmaindustrie…
Offenheit, Veränderungs- und Lernbereitschaft
Eine künftige humane Psychiatrie muss Offenheit, Lern- und Veränderungsbereitschaft als Basis haben. Psychopharmaka können einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung oder den Zugang zu sich selbst ermöglichen. Wichtig ist vor der Verabreichung eine ausführliche Aufklärung über ihre Wirkungsweise, mögliche Nebenwirkungen und eine ausführliche Risiko-Nutzen-Abwägung. Laut Patientenrechtegesetz ist dies das Recht des Patienten. Es ist also auch die Pflicht des Arztes, den Patienten offen und ehrlich darüber zu informieren. Es wäre wichtig, behutsamer mit dem Verteilen von Psychopharmaka umzugehen und eine Unterstützung bei gewünschten Absetzversuchen anzubieten. Ebenso dürfen dem Betroffenen bei Ablehnung einer Pharmakotherapie keine Nachteile in der Behandlung entstehen. Künftig muss sicher mehr auf ambulante Krisenversorgungen gesetzt werden. Die bedürfnisangepasste Behandlung mit Offenem Dialog oder Home Treatment werden dazu hoffentlich einen wichtigen Beitrag leisten können.
Fazit
Damit die Psychiatrie flächendeckend zu einer humanen Institution wird, gibt es noch viele Barrieren zu überwinden. Vermutlich wird eine nachhaltige Veränderung nur gemeinsam im Trialog gelingen, wenn sich Experten durch Fachwissen, Experten durch Erfahrung und Experten durch Miterleben endlich gemeinsam zusammenschließen, statt sich gegenseitig zu „bekämpfen“ und weiter in der „Wer hat Recht-Falle“ festzustecken. Es muss gemeinsam daran gearbeitet werden, Verbesserungspotenziale offen zu legen und anschließend auch umzusetzen. Ebenso im Hinblick auf Änderungen in der Politik würde ein gemeinsames, geschlossenes Auftreten möglicherweise mehr bewirken können als bisher. Es ist daher wichtig, dass alle Beteiligten miteinander im Gespräch bleiben. Statt gegenseitiger Schuldzuweisungen und Monopolisierungen muss konstruktiv an gemeinsamen Lösungen gearbeitet werden. Es scheint in vielerlei Hinsicht schon 5 vor 12 zu sein. Dies bedeutet, dass die Zeit noch nicht abgelaufen ist.
Hinweis
Die Themeninhalte dieses Artikels entstammen dem Buch „Humane Psychiatrie: Psychosoziale Versorgung zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ (Kohlhammer-Verlag, Stuttgart2019).
Literatur
Ver.di (2019): https://gesundheit-soziales.verdi.de/mein-arbeitsplatz/psychiatrie/++co++dd2d43ee-cfa8-11e9-a046-001a4a160100 [Zugriff am 29-09.2019].