Christophs Pflege-Café
Kaffeehäuser sind Orte der Tradition. Doch nicht nur dies. In den Kaffeehäusern begegnen sich in einer angenehmen Atmosphäre Menschen. Sie trinken schmackhaften Tee oder leckeren Kaffee miteinander. Sie genießen die eine oder andere Torte. Vor allem teilen die Menschen, wenn sie an den gemütlichen Tischen sitzen, Geschichten miteinander aus. Sie beobachten andere Menschen, weinen und lachen vor allem miteinander.
Christoph Müller, psychiatrisch Pflegender und Mitglied des Teams der Zeitschrift „Pflege Professionell“, greift diese Historie auf. Er spricht mit Menschen, die als Pflegende oder anders psychosozial Tätige Spannendes zu erzählen haben, Innovatives entwickelt haben oder Bemerkenswertes geleistet haben. Er ordnet Alltägliches oder Außerordentliches, was im pflegerischen Handlungsfeld geschieht, auf humorvolle und kritische Weise ein.
So lassen Sie sich in das „Christophs Pflege-Café“ einladen. Christoph wird Sie mit seinen Interviews oder seinen kritischen Blick sensibilisieren, aufwecken oder vielleicht auch einfach unterhalten. Viel Vergnügen!
Psychisch erkrankte Menschen sind in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder in der häuslichen Umgebung versorgt und behandelt worden. Home Treatment und Ambulante Psychiatrische Pflege sind Begriffe, die in diesem Kontext bekannt sind. In den vergangenen zwei, drei Jahren wird die „Stationsäquivalente Behandlung“ (StäB) diskutiert und realisiert, die eine Akutbehandlung psychisch erkrankter Menschen ist. Der Pflegewissenschaftler Martin Holzke, der gleichzeitig Pflegedirektor des Zentrums für Psychiatrie Südwürttemberg in der Weissenau ist, gehört zu den StäB-Pionieren in Deutschland. Anlässlich des Erscheinens des Buchs „Psychisch Kranke zu Hause versorgen“ sprach Christoph Müller für die „Pflege Professionell“ mit Martin Holzke.
Martin Holzke
Christoph Müller Was ist das Besondere an der „Stationsäquivalenten Behandlung“?
Martin Holzke Wir haben nun erstmalig die Möglichkeit eine Regelleistung des SGB V zu erbringen, die es ermöglicht Menschen während einer psychischen Krisensituation, in deren Lebenswelt zu behandeln. Der Kernunterschied zu bisherigen Home-Treatment-Projekten, die bereits eine Behandlung in der häuslichen Umgebung umfassten, ist, dass es für StäB einheitliche Regelungen und Rahmenbedingungen gibt, die vorliegen müssen, um das Angebot vorhalten zu können. Alle bisherigen Formen der aufsuchenden Akutbehandlungen waren in der Regel als Modellprojekt nach §64b SGB V vereinbart und daher sehr heterogen bezüglich des Angebots.
Christoph Müller Die „Stationsäquivalente Behandlung“ wird als Orientierung an den Bedürfnissen der Betroffenen verstanden. Wird es irgendwann einmal so sein, dass die stationäre Versorgung akut seelisch angeschlagener Menschen überflüssig wird?
Martin Holzke Es kommt darauf an, wie sich die psychiatrische Versorgung insgesamt entwickelt. Bei Betrachtung der von Priebe (2018) skizzierten Szenarien der zukünftigen Entwicklungen könnte es insbesondere bei einer Fokussierung auf die von ihm geschilderten Bereiche der Stärkung der Patientenrechte und der Virtualisierung zumindest zu einer deutlichen Verkleinerung der stationären Versorgung kommen. Aktuell gehen wir davon aus, dass viele Menschen von einer Behandlung in der eigenen Lebenswelt im Vergleich zu einer stationären Behandlung profitieren. Gleichwohl gelingt es uns derzeit nicht, ein geeignetes aufsuchendes Behandlungsangebot für alle Menschen vorzuhalten. Fremdaggressives Verhalten ist momentan einer der Hauptgründe, die gegen eine Behandlung zu Hause sprechen. In meiner Wahrnehmung gibt es noch immer starke Tendenzen zur Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Krisen und einen daraus resultierenden Irrglauben, dass alle Menschen in einer stationären Einheit versorgt werden sollten.
Christoph Müller Es gibt die Hypothese, dass die Genesung psychisch erkrankter Menschen in der ihnen eigenen Lebenswelt nachhaltigeren Erfolg zeigt. Gibt es in der kurzen Geschichte der „Stationsäquivalenten Behandlung“ Hinweise in diese Richtung?
Martin Holzke Es gibt sicherlich viele Menschen, die von einer Behandlung in der eigenen Lebenswelt profitieren. Wir haben mittlerweile über 300 Patient_innen stationsäquivalent behandelt und sehen die Hypothese häufig bestätigt. Gerade für Menschen, die bereits viele stationäre Behandlungen in der Vorgeschichte haben, bietet die StäB einen neuen Ansatz, der insbesondere über die Integration der Lebenswelt erfolgreich ist. Erweitert man die Fragestellung in Richtung Home-Treatment, so konnten Gühne et al. bereits 2011 eine wichtige Übersicht über die Wirksamkeit der aufsuchenden Behandlung darstellen.
Christoph Müller Welche besonderen Kompetenzen müssen psychiatrisch Pflegende mitbringen, um die sicher anspruchsvolle Versorgung akut seelisch erkrankter Menschen im häuslichen Umfeld auf die Beine stellen zu können?
Martin Holzke Pflegende im stationären Kontext sind es gewohnt, als Team zu arbeiten. Es gibt immer Kolleg_innen, mit denen Entscheidungen abgesprochen werden können und die zu einer Einschätzung hinzugezogen werden können. Fragestellungen zu Suizidalität oder der Gefahr einer Fremdaggression werden in der Regel nicht allein getroffen, sondern in einem multiprofessionellen Entscheidungsprozess. In der StäB ist dies so nicht möglich. Pflegende, die in diesem Setting arbeiten, müssen bereit sein, aufgrund ihrer Fachlichkeit Verantwortung zu übernehmen, autonom zu arbeiten und selbstständige Entscheidungen zu treffen. Dazu benötigen sie ein breites Spektrum an Fach- und Erfahrungswissen. Wichtige Hinweise auf die notwendigen Kompetenzen bietet die Arbeit von Weißflog et al. (2016), in der sie sich mit den Aufgaben und Tätigkeiten der Ambulanten Psychiatrischen Pflege in der Schweiz und in Deutschland beschäftigt haben. Exemplarisch können hier das Training von Alltagsfertigkeiten und sozialen Kompetenzen oder die Zusammenarbeit mit Familienangehörigen, Partnern und anderen Bezugspersonen genannt werden.
Christoph Müller Psychiatrisch-pflegerisches Arbeiten hat ja auch etwas mit der individuellen Grundhaltung zu tun. Dass bei der „Stationsäquivalenten Behandlung“ eine tiefgründige Reflexion einer sozialpsychiatrischen Position vonnöten ist, erscheint unverzichtbar. Wie gelingt Ihnen dies als Arbeitgeber?
Martin Holzke Wir sind davon überzeugt, dass die familiären und sozialen Beziehungen sowie die gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Bedingungen einen großen Einfluss auf die Entstehung von psychischen Krisen haben. Daher verstehen wir uns als Anbieter unterschiedlicher psychiatrischer Versorgungsangebote und als Teil der Gemeindepsychiatrischen Verbundes der Region. An allen unseren Standorten bieten wir seit Jahren wichtige Elemente der Gemeindepsychiatrie wie Tageskliniken und psychiatrische Institutsambulanzen, Arbeitsangebote und Möglichkeiten des betreuten Wohnens. StäB ist nun ein neuer Baustein des Versorgungsangebot und des sozialpsychiatrischen Verständnisses, in dem der Lebensweltbezug an unterschiedlichen Stellen von großer Bedeutung ist.
Christoph Müller Welche Vorteile hat die „Stationsäquivalente Behandlung“ gegenüber der stationären Versorgung? Wird StäB aus wirtschaftlichen Überlegungen umgesetzt?
Martin Holzke Wir denken, dass StäB für viele Menschen gegenüber der stationären Versorgung das bessere Behandlungssetting darstellt. Die Möglichkeit, den Alltag, die Familie oder die Nachbarschaft direkt in die Behandlung einzubeziehen, Krisenstrategien in der Lebenswelt zu entwickeln und zu erproben, lebenspraktische Tätigkeiten neu zu denken, das alles sind Gründe, die für StäB sprechen. Zu den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen kann angeführt werden, dass wir für die StäB nicht denselben Pflegesatz wie für die stationäre Versorgung erhalten. Die Kostenträger sind der Ansicht, dass eine Behandlung zu Hause wesentlich kostengünstiger erfolgen kann als eine stationäre Behandlung. Dies ist jedoch nicht der Fall. StäB ist sehr personalintensiv. Es entstehen zudem Kosten für den vorzuhaltenden Fuhrpark und für Koordinierungsleistungen, Tourenplanung und vieles andere mehr.
Christoph Müller Gibt es international vergleichbare Versorgungsmodelle zur „Stationsäquivalenten Behandlung“? Inwieweit können die Anbieter in Deutschland davon lernen?
Martin Holzke International gibt es bereits vielfältige Erfahrungen mit aufsuchender Behandlung. Hier kann vor allem auf Versorgungsformen wie das Assertive Community Treatment oder Crisis Resolution Teams verwiesen werden. Auch Aspekte des Open Dialogue können insbesondere für die Weiterentwicklung der StäB wichtige Anhaltspunkte bieten. In der aktuellen Phase, in der von manchen StäB noch immer grundsätzlich in Frage gestellt wird, können wir überhaupt Menschen während einer akuten psychischen Krise in der eigenen Häuslichkeit behandeln, können die internationalen Modelle sicherlich hilfreich sein, um immer wieder zu betonnen, dass es möglich ist und dass die Erfahrungen uns dazu ermutigen sollten, das Angebot tatsächlich vorzuhalten.
Christoph Müller Welche Vision einer psychiatrischen Akutbehandlung haben Sie ganz persönlich?
Martin Holzke Hier würde ich gerne zwei Perspektiven beleuchten.
Aus Sicht derjenigen, die psychiatrische Versorgungsangebote nutzen, stelle ich mir ein System vor, das Recovery als Grundgedanken fest verankert hat. Es bedeutet, dass ich flexible Begleitungsangebote erhalte, die in ihrer Intensität bedarfsgesteuert gestaltet werden können. In der Konsequenz könnte dies zur Folge haben, dass wir Systeme benötigen, in denen die Angebote der bisherigen Settings völlig durchlässig und individuell zusammengestellt sind. Die bisherige Trennung des Versorgungssystems in unterschiedliche Sektoren, die mitunter eine Finanzierung aus unterschiedlichen Töpfen mit sich bringt, wird es nicht leisten können.
Für Pflegende stelle ich mir ein entsprechendes Arbeitsfeld vor, das unterschiedliche Kompetenzniveaus der Pflegenden umfasst. Der Einsatz erfolgt dann entsprechend der erworbenen Kompetenzen und kann im Bereich der erweiterten Pflegepraxis im Grunde im stationären Kontext mit einem spezifischen Pflege-Assessement beginnen, dann in der Tagesklinik im Rahmen eines spezialisierten Gruppenangebots fortgeführt werden und schließlich mit der Pflegeberatung im häuslichen Umfeld im Kontext der StäB enden. Die Ausbildung spezifischer Kompetenzen bedingt in der Konsequenz meiner Ansicht nach ein setting-übergreifendes Arbeitsverständnis, das sich an den Bedarfen derjenigen orientiert, die das Versorgungssystem nutzen und nicht an den Strukturen, die Organisationen über die vergangenen Jahrhunderte entwickelt haben.
Christoph Müller Lieber Herr Holzke, für diese visionären Ideen pflegerischen Arbeitens in der psychiatrischen Versorgung danken wir Ihnen.
SGB V (Sozialgesetzbuch V)
Das SGB V regelt in der Bundesrepublik Deutschland die gesetzliche Krankenversicherung und deren Leistungen für die Leistungsempfänger.
Literatur
Gühne, U., Weinmann, S. Arnold, K., Atav, E.-S., Becker, T. & Riedel-Heller, S. (2011). Akutbehandlung im häuslichen Umfeld: Systematische Übersicht und Implementierungsstand in Deutschland. Psychiat Prax 2011; 38(3): 114-122. DOI: 10.1055/s-0030-1248598.
Priebe, S. (2018). Wo kann es hingehen mit der Psychiatrie? Der Nervenarzt, 89(11), 1217–1226. https://doi.org/10.1007/s00115-018-0589.
Weißflog, S., Schoppmann, S., & Richter, D. (2016). Aufgaben und Tätigkeiten der Ambulanten Psychiatrischen Pflege in der Schweiz und in Deutschland: Ergebnisse eines länderübergreifenden Forschungsprojektes. Pflegewissenschaft, 18 (3/4), 180–191. https://doi.org/10.3936/1338
Das Buch, um das es geht
Gerhard Längle, Martin Holzke & Melanie Gottlob: Psychisch Kranke zu Hause versorgen – Handbuch zur Stationsäquivalenten Behandlung, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2018, ISBN 978-3-17-035090-8, 161 Seiten, 29 Euro.