In pflegerischen Handlungsfeldern sind Berührungen alltäglich. Dabei geht die Bedeutsamkeit menschlicher Berührungen am Krankenbett häufig unter. Auch die Pflegewissenschaft hat sich nur begrenzt mit dem Phänomen der Berührungen beschäftigt. Die Tatsache, dass die Neurowissenschaft Berührungen zunehmend im Fokus haben, ist Anlass, über die Notwendigkeit von Berührungen nachzudenken. Die Neurowissenschaftlerin Dr. Rebecca Böhme hat Christoph Müller über neue Erkenntnisse berichtet.
Christoph Müller Körperliche Berührung kennen wir aus den ersten Minuten unseres Lebens. Wenn die Mutter das frischgeborene Baby in den Armen hält, dann scheint für alle Beteiligten die Welt in Ordnung. Haben Sie eine Ahnung, weshalb diese Grunderfahrung den Menschen im Laufe des Lebens verlorengeht?
Rebecca Böhme Ich denke, dass wir solche positiven Berührungserfahrungen durchaus auch noch später im Leben machen können, wenn auch vielleicht nicht in derselben Unmittelbarkeit. Unser Erleben von Berührung, ebenso wie unser Berühren, wird im Laufe des Lebens von Erfahrungen und natürlich auch von gesellschaftlichen Erwartungen und kulturellen Gepflogenheiten geformt. Es führt dazu, dass wir als Erwachsene Berührungen nicht mehr so unmittelbar erleben wie in der Kindheit, sondern immer auch darüber nachdenken: gehört sich dies jetzt? Oder auch: warum berührt der andere mich jetzt in dieser Weise? Was will er, will sie mir damit sagen?
Christoph Müller Vergleichbare existentielle Erfahrung mit der körperlichen Nähe machen wir während der Pubertät. Emotional wird uns bewusst, welche Spuren Umarmungen und Liebkosungen in der menschlichen Seele hinterlassen. Wie kann neurobiologisch gezeigt werden, dass Menschen diese Ermunterungen brauchen?
Rebecca Böhme Wir sehen, dass bei zwischenmenschlichen Berührungen im Gehirn Regionen aktiv werden, die mit der Verarbeitung von Berührungsreizen und dem Tastsinn zu tun haben. Das ist nicht verwunderlich. Doch es kommen noch andere Regionen hinzu: das Belohnungssystem ist aktiv, ebenso Bereiche, die für unsere sozialen Fähigkeiten wichtig sind und die aktiv werden, wenn wir über uns selbst und über unsere Mitmenschen nachdenken. Es lässt sich auch messen, dass Berührungen, beispielsweise eine Umarmung, von einer uns nahestehenden Person unser Stressniveau senken – nicht nur den subjektiv empfundenen Stress, sondern auch die Menge des Stresshormons Cortisol im Blut.
Christoph Müller Sie berichten davon, dass kulturelle Stereotypen den Umgang mit Berührungen prägen. Wie zeigen sich die kulturellen Unterschiede?
Rebecca Böhme Das Vorurteil der kühlen Nordländer und der berührungsfreudigen Südländer scheint sich in einigen Studien zu bestätigen. Da zeigt sich, dass sich beispielsweise Menschen in Südamerika viel häufiger berührten als in Großbritannien. Allerdings wurden für diese Studien Menschen in der Öffentlichkeit beobachtet, beim Cafébesuch oder im Flughafen. Eine andere Studie, die die Teilnehmer über ihr Berührungsverhalten im Privaten befragte, fand keine Unterschiede zwischen Norwegern, Briten und Südeuropäern.
Es mag in Großbritannien und auch im deutschsprachigen Raum weniger zu den Gepflogenheiten gehören, dass ein Paar oder Freunde sich im öffentlichen Raum berühren. Doch da wir uns ja einen Großteil des Tages in der Öffentlichkeit befinden, sind diese Unterschiede trotzdem relevant und führen dann in der Summe eben doch zu weniger Berührungserfahrungen bei uns.
Christoph Müller In helfenden Berufen haben Berührungen oft einen mechanistischen Charakter. Pflegende führen Grundpflege aus, unterstützen beim Urinieren und Defäzieren, versorgen Wunden. Lässt sich neurobiologisch nachweisen, dass sich die Pflichterfüllung der Berührungen bei bildgebenden Verfahren nachweisen lässt?
Rebecca Böhme Ich kenne zwar keine Studie, die genau diese Fragestellung untersucht, doch es gibt ausreichende Hinweise darauf, dass die Situation und auch, wer uns berührt, einen Einfluss auf die Verarbeitung im Gehirn hat. Wenn also die gepflegte Person spürt, dass es sich um eine reine Pflichterfüllung handelt, wird sie oder er sicherlich weniger positive Nebeneffekte von der Berührung haben. Dafür brauchen wir eigentlich gar nicht auf die neuronale Aktivität zu schauen, das kennt jeder aus dem Alltag: eine liebevolle Umarmung hat ja einen völlig anderen Effekt auf uns als Berührungen im Rahmen einer Routineuntersuchung beim Arzt.
Christoph Müller Wenn ein Mensch verliebt ist, so ist die Sensibilität gegenüber Berührungen deutlich ausgeprägter. Wie verändert sich die Sensitivität gegenüber Berührungen, wenn Menschen körperlich oder seelisch erkranken, gebrechlich werden?
Rebecca Böhme Solche Veränderungen können in beide Richtungen gehen, also dass die Betroffenen mehr oder weniger gern berührt werden. Darauf sollten die Menschen in ihrem Umfeld möglichst Rücksicht nehmen und darauf eingehen. Besonders häufig ist, dass Menschen, die erkranken, weniger Berührung erhalten. Dabei bräuchten sie diese eigentlich umso mehr. Es ist verständlich, dass die Angehörigen gerade bei psychischen Erkrankungen häufig unsicher sind, ob und wie sie den Betroffenen berühren sollen und vermeiden es dann. Es kann helfen, mit dem Betroffenen darüber zu sprechen sowie nach Wünschen und Grenzen zu fragen.
Christoph Müller Inwieweit können Körperpsychotherapien oder auch Methoden wie basale Stimulation Versäumtes nachholen?
Rebecca Böhme Im Rahmen einer Therapie können Betroffene erfahren, woher ihre Schwierigkeiten mit Berührung stammen und erhalten Unterstützung bei der Aufarbeitung. Basale Stimulation bietet eine gute Möglichkeit, den eigenen Körper überhaupt erst wieder richtig wahrzunehmen. Diese Selbstwahrnehmung ist unglaublich wichtig. Wenn man sich selbst und die Grenzen des eigenen Körpers spürt, kann man leichter in leibliche Interaktion mit jemand anders gehen. Ähnlich kann auch autogenes Training einem den Zugang zum eigenen Körper erleichtern.
Christoph Müller Was können Menschen in pflegenden Berufen tun, um allgemein die Offenheit gegenüber Berührungen zu erhöhen bzw. die eigene Aufmerksamkeit zu steigern?
Rebecca Böhme Wie so oft, ist der erste Schritt, sich über eigene Erfahrungen bewusst zu werden und auch einfach mal zu beobachten: wie nutze ich Berührung im Alltag, wie empfinde ich Berührungen von anderen? Außerdem ist es gerade im Pflegebereich wichtig, dass über Berührung gesprochen wird. Hier sollte es allerdings nicht nur um das Wohlergehen der gepflegten Person gehen, da eine Berührung immer etwas gegenseitiges ist. Insofern ist es für die pflegende Person wichtig, die eigenen Grenzen zu kennen und so einen Weg zu finden, positive und liebevolle Berührungen in den Arbeitsalltag einzubauen, die für beide Beteiligte angenehm sind. Das muss ja gar nichts Großes sein: jemandem die Hand halten oder liebevoll die Hand auf den Arm legen, kann schon einen starken Effekt haben.
Christoph Müller Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Mitgefühl für andere und dem Bewusstsein für sich selbst?
Rebecca Böhme Es scheint da einen Zusammenhang zu geben, allerdings ist dieser nicht immer vorhanden: wir kennen alle Menschen, die die eigenen Interessen verfolgen, ohne nach rechts und links zu blicken. Insofern denke ich, wir brauchen nicht nur ein Gespür für unsere eigenen Bedürfnisse haben, sondern auch ein Selbstverständnis von uns Menschen als die hochsozialen Wesen, die wir sind. Wer sich selbst nicht nur als Einzelperson wahrnimmt, sondern erkennt, wie eingebunden wir in unsere sozialen Beziehungen sind, der entwickelt Interesse und Mitgefühl für seine Mitmenschen.
Christoph Müller Herzlichen Dank für das im wahrsten Sinne des Wortes berührende Interview.
Das Buch, um das es geht
Rebecca Böhme: Human Touch – Warum körperliche Nähe so wichtig ist, C.H. Beck Verlag, München 2019, ISBN 978-3-406-72590-6, 192 Seiten, 14.95 Euro.