Wie in einem Brennglas macht die Corona-Krise zentrale Themen der Sorge für und mit Menschen im Alter bzw. mit Demenz sichtbar, die oft schon vorher problematisch waren. Sie zeigt aber auch neue Wege auf.
Dieses Papier möchte zum Nachdenken und zur Diskussion anregen. Es ist zwischen März und Juni 2020 im Rahmen des Netzwerks „Demenz vernetzen“ entstanden, das vom Kardinal König Haus in Wien koordiniert wird. Das Netzwerk bilden Menschen und Organisationen, die sich für die Sorge und Versorgung von Menschen im Alter in Praxis, Bildung und Wissenschaft engagieren. Sie tauschen sich über Probleme und Lösungsansätze aus, die sich in der sogenannten „Corona-Krise“ aus der Sicht der Pflege, Betreuung, Begleitung und Beratung von Menschen mit Demenz und aus der Forschung mit ihnen und ihren An- und Zugehörigen zeigen.
Wir wenden uns mit diesem Nachdenk- und Diskussionspapier an informell Sorgende, an An- und Zugehörige, Ehrenamtliche, nachbarschaftlich und zivilgesellschaftlich Engagierte. Wir wenden uns an formell Sorgende in Betreuung, Pflege und deren Koordination. Wir wenden uns an „Betroffene“ und meinen damit Menschen mit erhöhtem Schutzbedarf und mit Einschränkungen. Und wir wenden uns an entsprechende Organisationen und politische Entscheidungsträger*innen.
Für ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit und ein ganzheitliches Menschenbild
Wir erleben, dass die Vorstellung von Gesundheit derzeit einseitig von einer körperlichen – oder präziser formuliert – von einer virologischen Sicht auf Gesundheit geprägt ist. Mit großem Einsatz ist die Politik und mit ihr die Bevölkerung darum bemüht, das Virus und seine Ausbreitung zu bekämpfen. Das möchten wir jedenfalls würdigen.
Trotz der Krise ist es uns ein Anliegen, einander als Mitmenschen und nicht nur als potenzielle virologische Gefahr oder als mögliche Risikoträger*innen zu begegnen. Begegnungen sollen nicht von der Angst, das Virus zu übertragen oder sich zu infizieren, geprägt sein. Wir fragen uns daher: Warum sind Menschen über 65 plötzlich pauschal, fremddefiniert und über die akute Phase der Maßnahmen hinaus Teil einer Risikogruppe? Was macht diese Zuschreibung mit uns als Gesellschaft? Wir sehen die Gefahr der systematischen Ausgrenzung und Diskriminierung. Wir plädieren für eine ganzheitliche Perspektive, denn der Mensch ist so viel mehr als nur Risiko. Und: Soziale Isolation und Einsamkeit können ebenfalls krank machen, zu Leid/en führen und das Sterblichkeitsrisiko erhöhen. Gesundheit ist weit mehr als physische Unversehrtheit und Überleben. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheit umfassend in ihrer körperlichen, seelischen, sozialen und spirituellen Dimension. In diesem Sinne sollte Politik, so herausfordernd das auch ist, die physischen, psychischen, sozialen und spirituellen Bedürfnisse von Menschen wahrnehmen und ausbalancieren.
Handeln im Spannungsfeld zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung
- Dürfen Menschen im Alter für sich selbst entscheiden, auch wenn sie sich und damit eventuell die Kapazitäten des Versorgungssystems in Gefahr bringen
- Nehmen wir die soziale Isolation von Menschen im Alter in Kauf, um sie zu schützen?
- Sollen Menschen, um das Infektionsrisiko gering zu halten, einsam sterben?
- Sind wir bereit, auf körperliche Nähe zu verzichten, um das Virus in den Griff zu bekommen?
- Schließen sich Sicherheit und Würde aus?
- (Wie) ist Selbstbestimmung in diesem Spannungsfeld realisierbar?
Diese und andere Fragen fordern Organisationen und Professionen im Gesundheits- und Sozialbereich sowie informell Sorgende derzeit besonders heraus. Sowohl Mitarbeiter*innen in der Betreuung und Pflege als auch betreuende und pflegende An- und Zugehörige werden als Held*innen des Alltags gefeiert. Sie werden gleichzeitig dafür kritisiert, dass sie Empfehlungen zu streng oder zu milde auslegen.
Unser Anliegen lautet: Menschen im Alter vor COVID-19 schützen und ihr Recht auf Selbstbestimmung anerkennen. Die Balancierung dieses Spannungsfeldes ist nicht leicht, denn physische Distanz kann soziale Isolation bedeuten. Isolation gilt wiederum als Risikofaktor für die Entstehung einer neurokognitiven Störung (Demenz). Und: Der „totale Schutz“ von vulnerablen Gruppen bedeutet ihre Exklusion und Diskriminierung. Offen bleibt auch, wer die Vulnerabilität bestimmter Gruppen, die es zu schützen gilt, definiert. Die alleinige Orientierung an einem biomedizinischen, virologischen Verständnis ist ein Rückschritt gegenüber einem biopsychosozialen Modell, in dem Autonomie immer auch in der Relation zu Würde und persönlichem Wohlergehen verstanden wird.
Fürsorge und Selbstbestimmung, Sicherheit und Autonomie – diese Spannungsfelder sind nicht neu. Die Frage, ob freiheitseinschränkende Maßnahmen bei Menschen mit Demenz aufgrund von gesundheitlicher Eigen- oder Fremdgefährdung angemessen sind, hat Betroffene und mit dem Thema Befasste schon immer beschäftigt. Denn Selbstbestimmung lässt sich ein Leben lang, insbesondere aber in Zeiten des Alt-Seins und der Demenz nur in Beziehung zu anderen Menschen realisieren. Konflikte sind im Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Selbstbestimmung vorprogrammiert. Es gibt keine einfachen Lösungen. Trotz aller Fürsorgeverantwortung: Wir müssen stets aufs Neue in einem offenen, inklusiven Diskurs um würdevolle Formen der persönlichen Begleitung und Betreuung ringen.
Handeln im Spannungsfeld zwischen persönlichem Wohl und Gemeinwohl
In Zeiten der Pandemie stehen einander auch der Wert des persönlichen Wohls und jenes der Gesellschaft als Ganzes, des Gemeinwohls, gegenüber. Was bedeutet „solidarische oder sorgende Gesellschaft“, wenn ältere Menschen das Haus nicht nur zum individuellen Schutz, sondern auch zum Schutz des Gesundheitswesens („Kapazitäten“) nicht verlassen sollen? Wenn eine Person sich ganz bewusst für ein individuell höheres Risiko entscheidet: Was bedeutet dies für das Gemeinwohl? Wer entscheidet, mit wem, auf welchen Grundlagen, wie groß die persönliche Freiheit sein kann und die Einschränkungen zugunsten des Gemeinwohls zu sein haben? Auch hier gibt es keine einfachen Lösungen. Es gibt einen großen Bedarf nach neuen Formen der öffentlich-politischen Diskussion solcher gesellschaftlicher Grundsatz- und Grundrechtsfragen.
Fragil und ungerecht – das Sorgesystem
Die Corona-Krise führt vor Augen, wie fragil das österreichische Betreuungs- und Pflegesystem ist: Die plötzliche Schließung nationaler Grenzen ließ einen Turnuswechsel im Bereich der 24- Stunden-Betreuung nicht mehr zu. Von heute auf morgen sind Tagesbetreuungsstätten geschlossen, mobile Betreuungs- und Pflegedienste vieler Orts zurückgefahren und Beratungszentren auf Hotlines reduziert. Die ambulante und stationäre medizinische Versorgung ist auf das Notwendigste reduziert und für Senior*innen-Wohnhäuser ist ein Aufnahmestopp verhängt worden. Das führte dazu, dass Betreuung und Pflege noch mehr zur Privatangelegenheit werden. Mit der Corona-Pandemie und der Maßnahme des „physical distancing“ wird Sorgearbeit zunehmend in den informellen Bereich verlagert. Das geht mit einer zunehmenden psychischen und physischen Belastung für Menschen im Alter und deren An- und Zugehörigen einher. Zudem wird sichtbar, dass wir in der Krise auf traditionelle, überholt geglaubte Geschlechterrollen zurückgreifen. Da waren wir als Gesellschaft schon einmal weiter. Eine gute „Sorgepolitik“ setzt hingegen voraus, dass Care in allen Politikbereichen als Querschnittsthema mitbedacht und gefördert wird. Dazu gehört auch, die Arbeitsbedingungen aller, die in Sorgeberufen tätig sind, finanziell und strukturell grundsätzlich zu verbessern.
Was trägt in der Krise und darüber hinaus?
In den vergangenen Wochen sind zahlreiche nachbarschaftliche und zivilgesellschaftliche Angebote zur Unterstützung von Menschen im Alter und von ihren An- und Zugehörigen initiiert worden. Gerade auch junge Menschen haben sich helfend engagiert. Die Bereitschaft der Bürger*innen, einander zu helfen, gehört zu den Sternstunden dieser Krise. Schon länger entstehen Netze und Netzwerke einer kommunalen Sorgekultur (Caring Community). Gerade jene, die schon länger bestehen, greifen jetzt schneller und unterstützen Betroffene und ihr Umfeld. Diese Netze haben sich schnell an die neue Situation angepasst und schaffen soziale Nähe trotz physischer Distanz. Unabhängig von Corona gilt es, solche Nachbarschafts-, Grätzel- und Gemeinde-Initiativen sowie tragende Netzwerke strukturell zu fördern und zu stärken – als wichtiges zivilgesellschaftliches Element neben einer institutionellen und familialen Unterstützung in Sorge- und Pflegearrangements für Menschen im Alter. Gleichzeitig bleibt die Notwendigkeit bestehen, Gesundheits- und Sozialeinrichtungen und die darin arbeitenden professionell Tätigen mit entsprechenden Ressourcen auszustatten, um angemessene Gesundheits- und Sozialleistungen allen, die sie brauchen, zugutekommen zu lassen.
Orte des Dialogs in einer sorgenden Gesellschaft
Wir leben in Zeiten, in denen permanent Lösungen erwartet und Entscheidungen getroffen werden. Das kontrollorientierte Krisenmanagement hat dazu beigetragen, dass die intensivmedizinische Versorgung in Österreich nicht kollabiert ist. Die Politik suggeriert nun, dass sich die Situation in die richtige Richtung verändert und die Gesellschaft nun „hochgefahren“ werden kann. Nach allem, was wir bislang wissen, wird uns – und vor allem die als Risikogruppen titulierten – SARS-CoV-2 aber noch länger begleiten. Wir müssen daher lernen, mit dieser Unsicherheit, dem Nichtwissen und dem Restrisiko zu leben.
Dabei geht es darum, gemeinsam einen „lebbaren“ Umgang mit dem Risiko einer Infektion zu finden, der auf einem ganzheitlichen Menschenbild und einem ebensolchen Gesundheitsverständnis beruht. Dafür braucht es den Dialog. Zu einer sorgenden Gesellschaft gehören Räume des Dialogs, in denen Erfahrungen, Bedürfnisse und Interessen vieler sichtbar, Konflikte diskutiert und gemeinsame Wege ausgehandelt werden.
Mit diesem Papier möchten wir alle, aber auch Entscheidungsträger*innen dazu ermutigen, die allzu oft individualisierte Entscheidungsfindung in breitere Prozesse der Beteiligung einzubetten, damit in herausfordernden Zeiten und bei komplexen Themenstellungen Entscheidungen aus ganzheitlicher Perspektive getroffen werden können.
Kontakt für Unterstützungs-Meldungen und Rückfragen:
Mag. Petra Rösler, Kardinal König Haus, roesler@kardinal-koenig-haus.at, Tel: +43-1-804 75 93-607
Folgende Organisationen und Personen unterstützen das Nachdenk- und Diskussionspapier: Kardinal König Haus
Diakoniewerk
PROMENZ
Verein Sorgenetz
Abteilung Public Care, Universität Graz
Age & Care Research Group, Universität Graz
Institut für Pflegewissenschaft, Universität Wien
Plattform demenzfreundliches Wien
Expertisecentrum Dementie Vlaanderen vzw (Belgien)
„Leben mit Demenz“ Verein Soziale Dienste Hartberg Fürstenfeld Demenzservice Niederösterreich
Österreichisches Rotes Kreuz
wird laufend ergänzt Stand: 12. Juni 2020
Redaktion:
Katharina Heimerl, Institut für Pflegewissenschaft, Universität Wien
Gert Dressel, Verein Sorgenetz und Institut für Pflegewissenschaft, Universität Wien Nicole Bachinger-Thaller, Diakoniewerk
Petra Rösler, Kardinal König Haus
Raphael Schönborn, PROMENZ
Klaus Wegleitner, Abteilung Public Care, Universität Graz und Verein Sorgenetz
Dieses Papier entstand im Rahmen eines regelmäßigen Austausches im Netzwerk „Demenz vernetzen“ zwischen 30.03. und 18.5.2020 mit folgenden Teilnehmer*innen:
Petra Rösler, Kardinal König Haus (Moderation)
Anita Augsten, Diakoniewerk Tagesbetreuung Wels
Nicole Bachinger-Thaller, Diakoniewerk
Verena Bramböck, Koordinationsstelle Demenz Tirol
Johanna Breuer, FH Kärnten
Antonia Croy, Alzheimer Austria
Gert Dressel, Verein Sorgenetz und Institut für Pflegewissenschaft, Universität Wien Karin Eder, Wiener Rotes Kreuz
Daniela Egger, aktion demenz
Renate Gabler-Mostler, NÖ Gesundheits- und Sozialfonds
Gabriele Hagendorfer-Jauk, FH Kärnten
Katharina Heimerl, Institut für Pflegewissenschaft, Universität Wien
Björn Helling, TH Nürnberg, Deutschland
Lea Hofer-Wecer, Caritas St. Pölten
Ines Jungwirth, Styria vitalis
Brigitte Juraszovich, GÖG
Claudia Knopper, SALZ Graz
Reingard Lange, PROMENZ
Daniela Martos, Verein Sorgenetz/Initiative ACHTSAMER 8.
Birgit Meinhard-Schiebel, IG Pflegende Angehörige
Christina Mittendorfer, Caritas Wien
Petra Mühlberger, Caritas Wien
Gabriela Neveril, GerAnimationstrainerin
Ute Ötsch, Caritas Wien
Norbert Partl, Caritas Wien
Ronald Pelikan, Rotes Kreuz Landesverband NÖ, Bezirksstelle Groß-Enzersdorf Christina Pletzer, Caritas Innsbruck, Selbsthilfegruppe
Petra Plunger, Institut für Pflegewissenschaft, Universität Wien
Claudia Rathmanner, Caritas St. Pölten
Elisabeth Reitinger, Institut für Pflegewissenschaft, Universität Wien
Petra Schmidt, Österr. Rotes Kreuz
Raphael Schönborn, PROMENZ
Ulrike Schröer, Gerontopsychiatrisches Zentrum, Wien
Verena Tatzer, FH Wiener Neustadt
Silvia Tromayer, „Leben mit Demenz“ Verein Soziale Dienste Hartberg Fürstenfeld Jurn Verschraege, Experisecentrum Dementiee, Belgien
Carmen Viereckl, MAS Alzheimerhilfe
Klaus Wegleitner, Abteilung Public Care, Universität Graz und Verein Sorgenetz Stefanie Weigerstorfer, Caritas Linz
Lorenz Winkler, Caritas Tirol
Unter Mitwirkung von
Karin Reis-Klingspiegl, Styria vitalis
Monika Wild, Österreichisches Rotes Kreuz