Für das in der Pflege zunehmend ethisch und historisch reflektierte Handeln stehen dank der neueren Pflegegeschichte eine Reihe wichtiger Forschungsarbeiten zur Verfügung, etwa über die Entwicklung der Krankenpflege zu einer staatlich anerkannten Tätigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, die Entwicklung der konfessionellen Krankenpflege, die Kriegskrankenpflege, die Reform der Krankenpflege nach 1945 oder den Alltag in der Krankenpflege. Darüber hinaus können alle an der Pflegegeschichte Interessierten auf das „Biographische Lexikon zur Pflegegeschichte. ‚Who was who in nursing history‘“ zurückgreifen, von dem kürzlich Band 9 erschienen ist. Dass es im deutschsprachigen Raum ein solches Nachschlagewerk mit insgesamt rund 1.400 Einträgen gibt ist umso bemerkenswerter, als es von Beginn an auf einem außeruniversitär angesiedelten beziehungsweise ehrenamtlich durchgeführten Forschungsprojekt beruht, bei dem alle Mitwirkende nicht auf institutionelle, personelle und finanzielle Ressourcen zurückgreifen können.
Während es beispielsweise in der Medizin gleich mehrere biographische Nachschlagewerke gibt, auf die die interessierte Öffentlichkeit wie Forscher*innen zurückgreifen können, suchte man eine vergleichbare Veröffentlichung in der Krankenpflege lange Zeit vergeblich. Die einmalige Reihe begründete 1997 der renommierte Medizinpädagoge Horst-Peter Wolff (1934-2017), der auch die ersten drei Bände herausgab. Seit Band 4 (2008) liegt die Herausgebertätigkeit in Händen des Pflegehistorikers Hubert Kolling, der mit einer Vielzahl von Beiträgen maßgeblich bereits an den Bänden 2 (2001) und 3 (2004) mitgewirkt hat. Der gelernte Krankenpfleger, Diplom-Pädagoge und promovierte Diplom-Politologe, der auch mehrere sozialhistorische Studien zur Lokal- und Regionalgeschichte veröffentlichte, widmet sich seit vielen Jahren der Geschichte der Krankenpflege, wozu er mehrere Arbeiten publizierte. Darüber hinaus steuert er regelmäßig Beiträge unter anderem zu der von ihm mit initiierten, mittlerweile im neunten Jahrgang online und im Druck zweimal jährlich erscheinenden Fachzeitschrift „Geschichte der Pflege. Das Journal für historische Forschung der Pflege- und Gesundheitsberufe“ (www.geschichte-der-pflege.info) bei.
Bezugnehmend auf das von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2020 ausgerufene „Jahr der Pflegenden und Hebammen“ weist der Herausgeber in seinem Vorwort darauf hin, dass einige der aktuellen Probleme im deutschen Gesundheitswesen, genauer gesagt der anhaltende Mangel an professionellen Pflegekräften, keineswegs neu sind, wie ein Blick in die Geschichte zeige. Ebenso habe es zu allen Zeiten Menschen gegeben, denen die Krankenpflege besonders am Herzen lag und die sich deshalb zu deren Verbesserung auf ganz unterschiedlichen Ebenen immer wieder einsetzten. „Wer unterdessen mehr über solche Personen und deren Wirken wissen möchte, sei auf das ‚Biographische Lexikon zur Pflegegeschichte‘ verwiesen“. Dass es in Deutschland noch immer keinen Lehrstuhl zur Geschichte (und Ethik) der Krankenpflege gibt bedauert Hubert Kolling umso mehr, als „die Geschichte der Pflege in der Ausbildung und im Studium bisher kaum eine Rolle spielt und das Bewusstsein der Pflegenden für ihre eigene Berufsgeschichte – trotz der inzwischen rund dreißigjährigen Akademisierung der Pflege – noch immer äußerst schwach ausgeprägt ist“ (S. 7)“.
Wie die bislang vorliegenden Bände bietet auch der aktuelle Band des Lexikons, an dem neben dem Herausgeber knapp zwei Dutzend Autor*innen aus dem In- und Ausland mitgewirkt haben, seiner Leserschaft eine schnelle Übersicht über die Lebensdaten, das Wirken und die Bedeutung von Frauen und Männern, die in der Pflege beziehungsweise für die pflegerische Versorgung und deren Weiterentwicklung eine besondere Rolle spielten. Das Spektrum reicht dabei neben unmittelbar in der Pflege Wirkenden, Adeligen und Medizinern über Theologen bis hin zu Gewerkschaftern, zu denen Pflegehistoriker, Pflegewissenschaftler, Pflegedirektoren, Hospitalgründer und deren Vorsteher, Lehrbuchautoren, Vertreter der mittelalterlichen Krankenpflege, Gründer von Krankenpflegeorden sowie Ordensgemeinschaften und Schwesternschaften, ebenso wie Repräsentanten der Mutterhäuser hinzukommen. Berücksichtigt wurden auch solche Personen, die mehr in die Breite als in die Tiefe und mehr zerstörend als aufbauend wirkten. Dementsprechend finden für die Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945) sowohl Inhaber von für die Krankenpflege wichtigen politischen Ämtern Aufnahme, als auch solche Pflegepersonen, die sich an der sogenannten „Euthanasie“ beteiligten. Demgegenüber sind auch Personen aufgeführt, die sich dem Unrechtsregime – zumeist unter großem persönlichem Risiko für Leib und Leben – entgegenstellten. Selbstverständlich fehlen hier auch die Lebensgeschichten und Schicksale der Förderer und Praktiker der jüdischen Krankenpflege nicht.
Die überwiegende Mehrheit der aktuell knapp 90 vorgestellten Personen stammt aus dem deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich und der Schweiz); daneben sind aber auch einzelne, pflegehistorisch bedeutende Persönlichkeiten aus Brasilien, Frankreich, Großbritannien, Japan, Kroatien, Niederlande, Polen, Taiwan, Tschechien und den USA vertreten. Während dabei – entsprechend der beruflichen Entwicklung der Pflege – ein gewisser Schwerpunkt im 19. und 20. Jahrhundert liegt, fanden aber auch einige erst jüngst Verstorbene Eingang ins Lexikon, darunter der Hochschullehrer Heribert W. Gärtner (1955-2017), die Medizin- und Pflegehistorikerin Sylvelyn Hähner-Rombach (1959-2019) und die Pflegewissenschaftlerin Edith Kelnhauser (1933-2019), ebenso wie Horst-Peter Wolff (1934-2017), dem Hubert Kolling zugleich den Band widmete. Bei der überwiegenden Zahl der Beiträge handelt es sich um Neubearbeitungen, in einigen Fällen – zu denen neue relevante Informationen vorliegen – um Überarbeitungen.
Zu den einzelnen, durch zahlreiche Querverweise miteinander verknüpften Personen, wird deren Lebensweg und Wirken für die Krankenpflege fundiert vorgestellt, wobei die Autor*innen bei ihren Darstellungen, mal mehr und mal weniger, auch Wert auf die zeitgenössischen politischen und sozialen Rahmenbedingungen gelegt haben. Zu jedem Beitrag findet sich – soweit vorhanden – eine Portraitabbildung sowie Quellen- und Literaturangaben, die für weitere Forschungsarbeiten hilfreich sind. Ergänzt wird die Darstellung durch ein Gesamtverzeichnis aller Personen, die bisher im „Biographischen Lexikon zur Pflegegeschichte“ bearbeitet wurden.
Wie der Blick in die Veröffentlichung zeigt, sind viele der heutigen Probleme in der Pflege, die zumeist unter dem Begriff „Pflegenotstand“ subsumiert werden, keineswegs neu. Insofern bleibt dem „Biographischen Lexikon zur Pflegegeschichte“ zu wünschen, dass es nicht nur als Nachschlagewerk in die Bibliotheken von Hochschulen und Ausbildungseinrichtungen der Gesundheits- und Krankenpflege Eingang findet, sondern auch vom Pflegepersonal selbst zur Kenntnis genommen wird. In jedem Fall bietet die Lektüre nicht nur spannende Lebensgeschichten, sondern auch erhellende Einsichten.
Hubert Kolling (Hrsg.): Biographisches Lexikon zur Pflegegeschichte. „Who was who in nursing history“, Band 9. Verlag hpsmedia. Hungen 2020, 327 Seiten, broschiert, 34,80 €, ISBN 978-3-947665-03-7