Wien (OTS) – Österreichweit sorgt ein Gerichtsurteil für Empörung beim Klinikpersonal: Das Bezirksgericht Innere Stadt in Wien verbietet mit aktuellem Gerichtsbeschluss den Schutz des Personals durch Sicherheitskräfte. Nachdem im vorliegenden Fall durch das Eingreifen des Sicherheitsdienstes die Gesundheit der Patientin, von Angehörigen und des Personals geschützt werden konnten, wächst das Unverständnis und die Kritik. Edgar Martin, stellvertretender Vorsitzender der Personalvertretung Hauptgruppe II im Wiener Krankenanstaltenverbund, widerspricht Einschätzungen des Gerichts und fordert eine dringende Überarbeitung der gesetzlichen Richtlinien: „Wir brauchen den Rückhalt des Gesetzgebers für die Sicherheit von PatientInnen und Personal.“
Ein aktueller Fall befeuert die anhaltende Diskussion um den Schutz von medizinischem Personal: Eine Patientin kündigt an, den Vater und sich selbst umzubringen, und wird darauf in einer psychiatrischen Station vom Gesundheitspersonal im Nachtdienst angehalten. Ein klarer Fall von Selbst- und Fremdgefährdung. Um Situation dieser Art zu kontrollieren, bedarf es neben einer trainierten, kommunikationsgestützen Körperintervention oftmals auch ärztlich angeordneter Maßnahmen (medikamentöse Ruhigstellung, Fixierung). So auch in diesem Fall. Die Zwangsmaßnahmen sorgen bei der Patientin in der Folge für Gegenwehr. Sie schlägt und tritt gegen das Gesundheitspersonal. Zum Schutz des Personals wird der Sicherheitsdienst beigezogen, während das Gesundheitspersonal den Kontakt zur Patientin aufrechthält und die Schläge abwehrt. Da die Tritte zunehmen und es schwieriger wird, die Situation zu kontrollieren, greift der geschulte Sicherheitsdienst schließlich unter Anleitung des Gesundheitspersonals ein, indem er die Beine der Patientin hält. „Eine gefährliche Situation, die zum Wohle aller entschärft werden konnte“, erklärt Personalvertreter Edgar Martin, stellvertretender Vorsitzender der Hauptgruppe II im Wiener Krankenanstaltenverbund und selbst Trainer für Deeskalations- und Sicherheitsmanagement. „Hierbei muss erwähnt werden, dass auch der Sicherheitsdienst entsprechend der Bestimmungen geschult sein muss – sein Eingreifen dient einzig und allein der Gefahrenabwehr und der Sicherheit. Wir möchten ihm ausdrücklich für seine Unterstützung danken: Niemand wurde verletzt, die Selbst- und Fremdgefährdung wurde abgewehrt oder anders gesagt: der Patientin und ihrem Vater geht es gut.“
Im Anschluss beantragt die Patientenanwaltschaft jedoch eine gerichtliche Überprüfung, immerhin wurde durch das Eingreifen die Bewegungsfreiheit der Patientin beschränkt. Das Gericht stellte nun fest, dass diese Beschränkung durch das Festhalten der Patientin durch einen Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes unzulässig war. Begründet hat das Gericht seine Entscheidung einerseits damit, dass von Seiten des geschulten Personals im Akutbereich mit Abwehrreaktionen von PatientInnen zu rechnen sei, körperliche Abwehrhandlungen daher nicht per se als Notwehrsituation zu sehen sind. Zum anderen war das Hinzuziehen eines „medizinischen Laiens“, in diesem Fall des Sicherheitsdienstes, zum Festhalten der Beine, nicht gerechtfertigt.
„Dieses Urteil ist ein Freibrief, der in exponierten Bereichen wie Psychiatrie, Notfallstationen, Erstversorgungen etc. Gewalt gegenüber Gesundheitspersonal legitimiert und rechtlich stützt“, beurteilt Edgar Martin. „Die Security darf nur zusehen, wenn es Attacken gibt. Psychischer Druck, Ängste und Unsicherheiten für die MitarbeiterInnen des Gesundheitspersonals nehmen mit solchen Urteilen massiv zu, da die Beschäftigten damit rechnen müssen vor Gericht gezerrt zu werden, wenn sie bei körperlichen Attacken auf die eigene Unversehrtheit achten oder durch Sicherheitsdienste im Rahmen der Nothilfe unterstützt werden. Ich möchte an dieser Stelle auch an die Patientenanwaltschaft appellieren, im Sinne von Sicherheit und Gesundheit zu handeln: Das Urteil führt zu unhaltbaren Zuständen. Ohne Unterstützung des Gesundheitspersonals kann im Spital nur schwer Sicherheit für alle PatientInnen und Beschäftigten garantiert werden.“
Die Empfehlung des Gerichts, genug klinisches Personal vorzuhalten, um so auf den Einsatz von medizinischen Laien verzichten zu können, sei dabei laut Martin mehr als zynisch. „Corona offenbart einmal mehr: Wir müssen unsere Gesundheitsberufe attraktiver machen, damit wir mehr Nachwuchs für unser Gesundheitssystem gewinnen. Ich sage ganz offen: Wenn wir vom Gesundheitspersonal einfordern, dass sie sich ohne Unterstützung schlagen, treten und attackieren lassen müssen, steuern wir auf eine Katastrophe zu. Dieses Urteil hat fatale Signalwirkung – auch für diejenigen Gewaltopfer, denen oftmals ein Traumata bleibt und deren Risiko mit nicht einmal 200 Euro abgegolten wird. Wir freuen uns sehr über Applaus. Doch dringend nötig haben wir anderweitige Unterstützung.“
Für Edgar Martin verkennt die Argumentation des Gerichts die tatsächlichen Gegebenheiten und Regelungen im Gesundheitssystem: „Der beschriebene Vorfall ereignete sich in der Nacht und damit bei festgelegter, reduzierter Besetzung. Zudem hatten die Teams der Nachbarstationen parallel ebenso Ereignisse, die Kapazitäten gebunden hatten.“ Zudem habe der Sicherheitsdienst geschult und unter Aufsicht vom medizinischen Personal gehandelt. „Neben dem Sicherheitsdienst waren zwei Pflegepersonen und ein Arzt bei der Patientin. Wenn dann ein ebenfalls in Deeskalation und damit auch in den Grifftechniken geschulter Sicherheitsdienst nicht die Füße zur Gefahrenabwehr halten darf, verstehe ich die Welt nicht mehr. In dieser Situation brauchte es ein Paar zusätzlicher Arme, um Tritte abzuwehren und die Patientin behandeln zu können. Für uns in der professionellen Pflege ist jede Art von Zwang schlimm – uns dann aber noch zusätzlich ein schlechtes Gewissen einzureden, wenn wir uns und die Patientin vor Verletzungen schützen müssen, das ist eine riesen Sauerei.“
Edgar Martin fordert daher eine dringende Überarbeitung der gesetzlichen Richtlinien. Das Personal müsse rechtssicher und geschützt seiner Arbeit nachgehen können. „Wir brauchen den Rückhalt des Gesetzgebers für die Sicherheit der PatientInnen und des Personals. Die Personalvertretung Hauptgruppe II hat das Urteil deshalb auch zur Prüfung an RechtsexpertInnen weitergeleitet. Der stellvertretende Vorsitzende der Hauptgruppe II warnt vor unabsehbaren Folgen, die man entschlossen und geschlossen verhindern müsse: „Bleibt die Rechtslage so wie sie ist, müsste das Personal in gefährlichen Situationen erst einmal seine Ressourcen prüfen und sich dann bei Bedarf zurückziehen. Wenn alles so bleibt, müssen wir als Gewerkschaft und Personalvertretung dies unseren Beschäftigten, zu ihrem eigenen Schutz, raten und von ihnen einfordern. Dann lassen wir die Patientin gehen und rufen die Polizei. Wir können in solchen Fällen dann nur hoffen, das weder Öffentlichkeit, noch Angehörige oder PatientInnen zu Schaden kommen. Deswegen fordern wir klar und deutlich: Gebt uns die gesetzliche Unterstützung und Rückendeckung, Gefahren vor Ort zu deeskalieren! Zum Schutz und zum Wohle aller!“