AT: Thema Pflege: Welche Trendwende es wirklich braucht

6. Mai 2017 | News Österreich, Pflegende Angehörige | 0 Kommentare

Aktion 20.000

Mit der Aktion 20.000 schafft das Sozialministerium zusätzliche Arbeitsplätze für Langzeitbeschäftigungslose Personen über 50 Jahren in Gemeinden, gemeindenahen Bereichen, gemeinnützigen Organisationen und Unternehmen. Ab Juli 2017 wird die Arbeitsmarktinitiative in den Pilotregionen in allen Bundesländern starten.

Ein Anwendungsgebiet für die Aktion 20.000 ist das Projekt „Selbständig Leben Daheim“ (SLD). Hier wird – über die regional tätigen Träger – für Personen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf eine mehrstündige Alltagsbegleitung angeboten. Damit wird ein Lückenschluss zwischen mobilen Diensten und der 24-Stunden-Betreuung hergestellt und gleichzeitig zukunftssichere Arbeitsplätze geschaffen.

Ausbildung

Vor Beginn dieser Tätigkeit, erhalten die TeilnehmerInnen der Aktion 20.000 eine rund fünfwöchige, vom AMS finanzierte Ausbildung. Diese Ausbildung dient gleichzeitig als Ausgangspunkt für eine spätere Qualifizierung zur Heimhilfe, die aufbauend auf den bereits erlernten Fähigkeiten nach spätestens acht Monaten erfolgen soll und insgesamt 400 Ausbildungsstunden in Theorie und Praxis beinhaltet.

Förderung der Träger

Als Vertragspartner für das AMS kommen alle Träger infrage, die vom jeweiligen Land anerkannt sind und die bereit sind, die BetreuerInnen im Ausmaß von mindestens 30 Wochenstunden zu beschäftigen. Die dabei auftretenden Lohn- und Lohnnebenkosten für die neu aufgenommenen MitarbeiterInnen aus der Aktion 20.000 werden den Trägern ersetzt.

Kostenbeiträge durch die betreute Person

Um eine Konkurrenzsituation mit bestehenden Heimhilfediensten zu vermeiden, wird das Begleitungsangebot nur in Blöcken ab mindestens vier Stunden am Stück angeboten.

Selbständig Leben Daheim (SLD)

Der Fokus dieser Alltagsbegleitung liegt nicht auf pflegerische Tätigkeiten sondern auf (Freizeit-)Begleitung älterer und unterstützungsbedürftiger Personen. Dadurch kann die Betreuungssituation pflegebedürftiger Menschen weiter verbessert und ihre Autonomie und gesellschaftliche Teilhabe möglichst lange erhalten werden. Darüber hinaus stellt das Angebot SLD eine Entlastungsmöglichkeit für pflegende Angehörige dar.

Die Alltagsbetreuung kann von allen Personen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf in Anspruch genommen werden. Das heißt, nicht nur PflegegeldbezieherInnen, sondern auch Personen mit vorübergehendem Betreuungsbedarf, bzw. Personen mit Behinderung, bei denen regelmäßiger Betreuungs- oder Begleitungsbedarf besteht, die jedoch kein Pflegegeld beziehen, können dieses Angebot nutzen. Die Einschätzung des Bedarfs einer mehrstündigen Alltagsbegleitung erfolgt durch die Träger.

Tätigkeitsprofil

  • Unterstützung bei Besorgungen außerhalb des Wohnbereiches
  • Förderung von Kontakten im sozialen Umfeld
  • Mobilitätshilfe
  • Begleitung bei Alltagsaktivitäten und Ausflügen

Erweiterter Aufgabenbereich (im Bedarfsfall auf Basis der Ausbildung möglich)

  • Hauswirtschaftliche Tätigkeiten
  • Unterstützung bei der Zubereitung und Einnahme von Mahlzeiten
  • Einfache Aktivierung bzw. Anregung zur Beschäftigung
  • Hygienische Maßnahmen, wie persönliche Hygiene oder Hygiene im Haushalt)
  • Unterstützung von Pflegepersonen

Nächste Schritte

Die Landesgeschäftsstellen des AMS führen ein Screening der Langzeitbeschäftigungslosen über 50 in den Modellregionen durch und ermöglichen die entsprechende Ausbildung der infrage kommenden Personen. Zur Vermittlung qualifizierter und geeigneter Personen sind die regional tätigen Träger nach der Bedarfsfeststellung aufgerufen sich an die AMS-Geschäftsstellen zu wenden.

Gleichzeitig werden die BürgermeisterInnen vor Ort sowie sämtliche PflegegeldbezieherInnen in der Region durch das Sozialministerium über das Angebot informiert. Bei Bedarf und Interesse können sie an die Träger herantreten.

(C) Markus Golla

Statement Birgit Meinhard-Schiebel

Präsidentin IG-Pflege

Wir sind als Interessengemeinschaft pflegender Angehöriger seit 2010 das Sprachrohr jener Menschen, die daheim mit oder oft genug ohne Unterstützung, über Jahre hinweg, ihre Angehörigen und Zugehörigen betreuen und pflegen. Menschen, die immer wieder vor neuen organisatorischen und persönlichen Herausforderungen stehen. Die mit ihrem Beitrag das Gesundheitssystem nicht nur entlasten sondern es überhaupt möglich machen, dass Menschen so lange wie möglich und so lange sie es möchten, daheim bleiben können.

Der Satz, der mich seit Jahren dabei begleitet heißt: „Damit habe ich nicht gerechnet“. Denn keine Situation gleicht der anderen und sich in ihr zurechtzufinden, das ist eine enorme Belastung. Viel zu wenig pflegende Angehörige und Zugehörige wissen über das breitgefächerte Angebot von Hilfe und Unterstützung Bescheid. So wichtig Broschüren und Printprodukte sind, sie erreichen die Hilfesuchenden nicht oder erst dann, wenn sie sie an den Orten finden, wo sie vorhanden sind. Immer noch ist die häufigste Informationsquelle die unmittelbare Bekanntschaft und Nachbarschaft.

Unser Anliegen ist es, dafür zu sorgen, dass Menschen in den unterschiedlichen Formen an die Informationen kommen, die ihnen genau dann helfen, wenn die Welt für sie plötzlich Kopf steht. Medien sind eine der wichtigsten Unterstützer dabei und haben eine Lotsenfunktion, um rasch und sicher zu jener Stelle zu kommen, die unkompliziert und niederschwellig hilft, wenn die Not am größten ist. Fernsehen und Radio nutzen Menschen täglich und viele Kampagnen zu Gesundheit und anderen Themen laufen mit großem Erfolg über sie.

Wir stellen unsere Jahreskonferenz 2017 unter den Titel „Wie die Hilfe zu den pflegenden Angehörigen kommt“ und haben dazu breitflächig eingeladen. Um gemeinsam daran zu arbeiten, wie die oft zitierte Niederschwelligkeit in die Realität umgesetzt werden kann. Um in einem oder zwei Jahren sagen zu können: Menschen wissen sehr gut, wer ihnen rasch und unkompliziert im Fall des Falles mit Informationen weiterhilft.

(C) Markus Goll

Statement Alois Stöger
Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz

„Österreich kann stolz auf sein Pflegevorsorgesystem sein. Um die hohe Qualität des österreichischen Betreuungssystems für pflegebedürftige Menschen zu erhalten, müssen wir es aber laufend weiterentwickeln. Im Bereich der 24-Stunden-Betreuung sowie bei mobilen, stundenweisen Diensten sind wir gut aufgestellt, was wir noch brauchen, ist ein Lückenschluss zwischen den beiden Systemen“, führt Sozialminister Alois Stöger aktuelle Herausforderungen im Bereich Pflege und Betreuung auf.

Aus diesem Grund wurde im Rahmen der Aktion 20.000 das Konzept „Selbständig Leben Daheim“ an die Länder übermittelt, das genau diesen Anforderungen gerecht wird. „Mit der Aktion 20.000 wollen wir sinnstiftende Arbeitsplätze für Langzeitbeschäftigungslose über 50 in den Gemeinden schaffen. Gemeinsam mit den Trägerorganisationen haben wir daher ein Modell entwickelt, das regionale und nachhaltige Arbeitsplätze schafft und gleichzeitig die Lebensqualität von pflegebedürftigen Menschen steigert. Vor allem im ländlichen Raum profitieren davon Personen, die so länger in den eigenen vier Wänden bleiben können und deren Angehörige massiv entlastet werden.“

Die anfallenden Lohn- und Lohnnebenkosten für die so im Rahmen der Aktion 20.000 neu aufgenommenen MitarbeiterInnen werden den Trägern ersetzt. „Damit können wir betreuungsbedürftigen Personen eine qualitativ hochwertige und leistbare Alternative zur 24 Stunden-Betreung anbieten“, betont Stöger, dessen Ziel es von Anfang an war ein hochwertiges und kostengünstiges Angebot für die betroffenen Personen zu schaffen.

Neben dem Sozialministerium waren die Träger der BAG Freie Wohlfahrt (Rotes Kreuz, Volkshilfe, Diakonie, Caritas, Hilfswerk), der Arbeiter Samariterbund sowie der Dachverband der Wiener Sozialeinrichtungen an der Entwicklung beteiligt. Bei der Umsetzung werden regionale Strukturen und Träger einbezogen und berücksichtigt. Der Fokus liegt auf der Alltagsbegleitung und nicht primär bei Pflege und Betreuung, damit werden bestehende Angebote ergänzt. Die Ausbildung wird durch das AMS finanziert und ist Grundlage für die spätere Qualifizierung zur Heimhilfe.

„Ich möchte mich vielmals bei allen beteiligten Organisationen bedanken. Wir gehen damit optimal auf die Bedürfnisse betreuungsbedürftiger Personen und ihrer Angehörigen ein. Ohne die gute Zusammenarbeit wäre das nicht möglich gewesen“, so Stöger in Bezug auf das gute Miteinander bei der Konzeptentwicklung.

(C) Markus Golla

Statement Werner Kerschbaum
Finanzreferent IG-Pflege und Generalsekretär des Österreichischen Roten Kreuzes

Ich spreche auch als Vertreter der Bundesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrt, in der die Trägerorganisationen Caritas, Diakonie, Hilfswerk, Rotes Kreuz und Volkshilfe zusammenarbeiten. Wir unterstützen gemeinsam mit dem Arbeiter-Samariter-Bund das vorgestellte Konzept, bei dessen Entwicklung wir aktiv eingebunden waren. Aus unserer Sicht ist „Selbständig Leben Daheim“ eine wichtiges, ergänzendes Angebot für Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf, und natürlich für deren pflegende Angehörige.

Das neue Betreuungs-Angebot im Umfang von bis zu 10 Stunden ist nicht nur dringend nötig, sondern auch sinnvoll, weil es einen längst fälligen Lückenschluss zwischen der 3h- und der 24h-Betreuung darstellt. Es könnte eine spürbare Erleichterung für pflegende Angehörige bringen. In einigen Fällen wird es auch eine Alternative zur 24h-Betreuung sein.

Viele pflegende Angehörige überfordern sich permanent, leben relativ isoliert und sind kaum vernetzt. Laut Daten des Kompetenzzentrums Qualitätssicherung in der häuslichen Pflege empfinden 62 Prozent der pflegenden Angehörigen ihre Verantwortung als psychische Belastung. 47 Prozent machen sich Sorgen oder haben Angst. 44 Prozent gaben an, sich einschränken und auf Dinge verzichten zu müssen.

Es gibt rund 455.000 Pflegegeld-Bezieher in Österreich. Die überwiegende Mehrheit von ihnen – nämlich 84 Prozent – wird zu Hause gepflegt. Das sind mehr als 380.000 Menschen. Und es liegt immer in der Verantwortung der Angehörigen, ihre Versorgung zu organisieren. Gut die Hälfte tut das ohne fremde Hilfe.

Das neue Angebot ist ein Meilenstein, aber es braucht weitere Verbesserungen. Zum Beispiel eine jährliche Valorisierung des Pflegegeldes und kostenlose Beratung für pflegende Angehörige. Wir brauchen aber auch eine Trendwende im Denken darüber was es heißt, Angehörige zu pflegen. Die Menschen leben länger, und leiden oft an mehreren Krankheiten gleichzeitig. Dadurch wird der Pflege- und Betreuungsbedarf komplexer. In Zukunft werden pflegende Angehörige öfter professionelle Hilfe brauchen. Die Betroffenen müssen über diese Angebote aber nicht nur Bescheid wissen, sondern die Hilfe auch annehmen – und zwar mit einem neuen Selbstverständnis. Weil es kein Zeichen von Schwäche oder Überforderung ist, nach Unterstützung und um Rat zu fragen – sondern etwas Positives, und der erste Schritt zur Besserung. Die Hilfe annehmen! Das muss stärker in die Köpfe hinein.

Autor

  • Markus Golla

    Studiengangsleiter "GuK" IMC FH Krems, Institutsleiter Institut "Pflegewissenschaft", Diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger, Pflegewissenschaft BScN (Umit/Wien), Pflegewissenschaft MScN (Umit/Hall)