AT: Schmerzmedizin als zentrale Aufgabe in der Alternsmedizin

23. Mai 2018 | Demenz, News Österreich | 0 Kommentare

  1. Wissenschaftlicher Kongress der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG) in Linz: Das Generalthema „Schmerzmedizin trifft Alternsmedizin“ wird mit der demografischer Entwicklung immer wichtiger.

Wien/Linz, 23. Mai 2018 – Derzeit leben in Österreich rund 700.000 Menschen im Alter über 75 Jahren. Im Jahr 2030 wird diese Bevölkerungsgruppe rund eine Million Menschen umfassen. „Das Thema der Schmerzmedizin bekommt damit immer mehr Bedeutung. Ein Großteil der Betagten erklärt, an Schmerzzuständen zu leiden“, sagt Prim. Univ.-Prof. Dr. Christian Lampl, Neurologe, Schmerzspezialist und Ärztlicher Direktor des Ordensklinikums Linz der Barmherzigen Schwestern. Er richtet als Präsident den Wissenschaftlichen Kongress der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG) aus, der von 24. bis 26. Mai in Linz stattfindet.

„Der Schmerz als Wegbegleiter im Alter“, „Der vergessene Schmerz – Schmerzerleben bei Menschen mit Demenz“, die verschiedenen Ursachen für vor allem chronische Schmerzzustände im Alter, Spezifika der Therapie geriatrischer Schmerzpatienten sowie aktuelle Trends in der schmerzmedizinischen Grundlagenforschung und ethische Fragen stehen im Mittelpunkt der Tagung. „Wir erwarten rund 500 Teilnehmer, das Interesse ist sehr groß“, sagt Prof. Lampl. Es gehe vor allem um eine Gesamtschau und um umfassende Behandlungs- und Versorgungskonzepte, betont der Experte: „Die Schmerzmedizin für ältere Menschen erfordert ein profundes Wissen bezüglich ihrer Möglichkeiten und Grenzen.“

In der Epidemiologie existieren einige wissenschaftliche Untersuchungen, die deutliche Hinweise auf die Dimension des Problems Schmerz im Alter geben. „Personen über 65 Jahre berichten bei einer Umfrage zu einem gewissen Zeitpunkt zu etwa 85 Prozent, dass sie Schmerzen haben. Unter den über 80-Jährigen leiden rund 30 Prozent an chronischen Schmerzzuständen“, sagt Kongresspräsident Lampl.

Laut Studien kann man davon ausgehen, dass etwa 35 Prozent der über 65-Jährigen auch eine vom Arzt verordnete Schmerztherapie haben. Jeder zweite Schmerzpatient in dieser Altersgruppe therapiert die Symptome selbst. 60 Prozent der verkauften rezeptfreien Medikamente (OTC) sind Analgetika.

Besondere Rahmenbedingungen

Dabei gibt es einige Spezifika, welche Schmerzpatienten in den höheren Altersgruppen aufweisen. „Im Alter erhöht sich die Schmerzschwelle, also jene Schwelle, ab der Schmerzen wahrgenommen werden“, so Prof. Lampl. „Auf der anderen Seite kann die Schmerztoleranz niedriger sein. Ältere Menschen können leichte Schmerzen oft unterschätzen, und gleichzeitig starke Schmerzen überschätzen.“

Schmerzempfindung, Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung sind aber auch von der kognitiven Leistungsfähigkeit abhängig. Besonders schlagend wird das beim Vorliegen von Demenz. „Unser Problem liegt darin, dass es offenbar ein starkes Under-Reporting-Phänomen gibt, was Schmerzen im Alter angeht. Oft werden solche Symptome als ‚normales Alterungszeichen‘ ohne eigenen Krankheitswert angesehen“, betont der Kongresspräsident.

Auf der anderen Seite kann die Feststellung von Schmerzsymptomen durch den Arzt allein schon an Problemen wie einem beeinträchtigten Hörvermögen (Frage gehört?) oder an bestehenden kognitiven Einschränkungen (Frage verstanden?) scheitern. Fragebögen, Schmerzskalen etc. können betagte Menschen mit eingeschränkter psychischer und physischer Gesundheit überfordern und sowohl die Diagnose selbst als auch die Bestimmung der Stärke der Symptome und die Messung des Effekts einer Therapie erschweren.

Schließlich treffen gerade im Alter verschiedenste Ursachen und Rahmenbedingungen zusammen. Prof. Lampl: „Natürlich leiden viele ältere Menschen an schmerzhaften Störungen und Schäden des Bewegungs- und Stützapparates. Aber auch Polyneuropathien werden häufiger. Krankheiten und Störungen im Bereich von Bauch oder Becken (gastroenterologische, urologische, gynäkologische Erkrankungen) können ebenso die Ursache sein wie psychosomatische Störungen. Verletzungen, Stürze oder Erkrankungen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall können anhaltende Schmerzsymptome auslösen.“

Der Spezialist nennt zwei besonders typische Situationen, welche im Alter zu chronischen Schmerzen führen können: „Ein Patient, der im Alter von 70 Jahren eine Gürtelrose (Herpes zoster) bekommt, hat ein 70-prozentiges Risiko für das Entstehen einer Post-Zoster-Neuralgie. Menschen nach einem Schlaganfall können zentrale neuropathische Schmerzen entwickeln. Die können auch noch ein halbes oder ein Jahr nach dem Schlaganfall erstmals auftreten.“

Die behandelnden Ärzte müssten deshalb immer den Gesamtzustand des Patienten im Auge behalten. Mehrfacherkrankungen, Chronifizierung von Beschwerden, Komorbiditäten wie Schwindel, Immobilität, Mangel an Muskelkraft und Ausdauer etc. seien immer zu berücksichtigen. „Es kommt auf die Gewährleistung einer möglichst hohen Lebensqualität insgesamt an“, sagt Prof. Lampl. Nicht ein Organ allein – zum Beispiel die klassische „Hüfte“ oder ein infolge von Arthrose schmerzendes Knie etc. – sollten behandelt werden, sondern der ganze Mensch.

Verändertes Ansprechen auf Medikamente

Schließlich gilt es auch, Besonderheiten in der Pharmakotherapie von betagten Schmerzpatienten zu berücksichtigen. „So nimmt die Glomeruläre Filtrationsrate (Filtrationsleistung der Nieren) im Alter um 30 bis 40 Prozent ab. Das kann dazu führen, dass gewisse Medikamente im Körper kumulieren“, erklärt der Experte.

Nach der Einnahme von Opioiden oder auch von Antikonvulsiva, wie Gabapentin, in der Schmerztherapie kann dadurch eine Kumulation des Wirkstoffes im Körper entstehen. Das erzeugt dann Symptome einer Überdosierung. Einen ähnlichen Effekt hat die Abnahme des Anteils des Körperwassers mit zunehmendem Alter. Und schließlich nimmt auch die Leberfunktion ab, was wiederum den Abbau von Substanzen wie Morphinen oder Benzodiazepinen verlangsamt.

„Auch die bei älteren Patienten oft notwendige Gabe von mehreren Arzneimitteln, die Polypharmazie, begünstigt das Entstehen von Wechsel- und Nebenwirkungen“, sagt Prof. Lampl. So kommt es beispielsweise unter der Einnahme von Neuroleptika und Antidepressiva zu einer verstärkten Wirkung. Alkohol und Benzodiazepine sollten nie zusammen kommen. Das gilt auch für Benzodiazepine und Opioide.

Drei Ziele

Wenn beispielsweise ein an sich schon an Schwindel leidender Patient auch noch zusätzlich durch die Multimedikation beeinträchtigt wird, können Antriebslosigkeit, Unfälle (Sturzrisiko) mitunter in eine Katastrophe münden. Klassisch das Sturzrisiko bei alten Menschen erhöhende Arzneimittel sind Benzodiazepine, Neuroleptika, Antidepressiva, nichtsteroidale Antirheumatika und natürlich auch Blutdruckmedikamente. Abgesehen von Letzteren werden die übrigen Substanzen durchaus auch in der Schmerztherapie eingesetzt.

Prof. Lampl formuliert drei grundsätzliche Ziele einer umfassenden Betreuung von Schmerzpatienten im Alter:

–       Erhaltung der funktionellen Fähigkeiten: Hier spielen auch nicht-medikamentöse Therapieformen eine wesentliche Rolle

–       Erreichen einer möglichst hohen Lebensqualität

–       Vermeidung von Neben- und Wechselwirkungen

Keine falschen Versprechungen

„Die Lebensqualität wird immer mehr an Bedeutung gewinnen“, sagt der Experte. Das sei schon allein durch die immer häufiger werdenden chronischen Erkrankungen bedingt.

Gleichzeitig geht es um das Anstreben von realistisch erreichbaren Zielen. „Jemanden Schmerzfreiheit zu versprechen, ist unsinning und weckt falsche Hoffnungen. Prozentangaben sollten auch nicht gemacht werden, also zum Beispiel eine Verringerung der Schmerzintensität um X Prozent. Die Patienten sollten möglichst selbst definieren, was sie erreichen wollen“, sagt Prof. Lampl. „Wir müssen verhindern, dass Menschen zu ‚Drehtürpatienten‘ werden, die von einem Arzt zum nächsten gehen und sich trotzdem nicht ausreichend behandelt fühlen.“

Autor:in

  • Markus Golla

    Studiengangsleiter "GuK" IMC FH Krems, Institutsleiter Institut "Pflegewissenschaft", Diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger, Pflegewissenschaft BScN (Umit/Wien), Pflegewissenschaft MScN (Umit/Hall)