Anstelle der geplanten Jubiläumstagung der Medizinischen Kontinenzgesellschaft Österreich (MKÖ) öffnete die Gesellschaft heuer Corona-bedingt erstmals ihre virtuellen Türen. Das Online-Seminar widmete sich dem schmerzhaften Beckenboden, der meistens multifaktoriell bedingt ist und daher multidisziplinär betrachtet werden muss. Das setzt eine gute Vernetzung aller beteiligten Fachgruppen voraus, was seit jeher ein erklärtes Ziel der MKÖ ist.
Seit 30 Jahren engagiert sich die Medizinische Kontinenzgesellschaft Österreich (MKÖ) in der Wissensvermittlung unter allen Fachgruppen, die sich mit Inkontinenz, Blasen- und Darmfunktionsstörungen beschäftigen. Ärzte, Pflegepersonen, Physiotherapeuten und Hebammen haben vor allem im Rahmen der wissenschaftlichen Jahrestagung umfassend Gelegenheit für multidisziplinäre Fortbildung und Erfahrungsaustausch.
Corona-bedingt mussten sowohl der Kongress als auch die geplanten Jubiläumsfeierlichkeiten auf das nächste Jahr vertagt werden. Dem Esprit der MKÖ und der beiden Tagungspräsidenten Katharina Meller, PT und Priv. Doz. Dr. Nikolaus Veit-Rubin ist es zu verdanken, dass anstelle der Präsenzveranstaltung ein komprimiertes, hochinteressantes Programm in digitaler Form stattfinden konnte. Der Schmerz im Beckenbereich stand im Mittelpunkt des vierstündigen Intensiv-Webinars. Zwölf Vortragende aus verschiedenen Fachdisziplinen beleuchteten ihren Zugang in den unterschiedlichen Facetten und standen den rund 150 Teilnehmern für Fragen zur Verfügung, die per Chat gestellt werden konnten. „Die dreistellige Teilnehmeranzahl bereits in der ersten Stunde zeigte, wie relevant das Thema und wie groß der Wunsch nach Austausch ist“, freuten sich Meller und Veit-Rubin über das rege Interesse.
Vielfältige Ursachen des chronischen Beckenschmerzes (CBS)
Den Beginn machte die Gynäkologie mit Ausführungen über zwar gutartige, jedoch meist sehr schmerzhafte Wucherungen von Gewebe der Gebärmutterschleimhaut. Bei der Behandlung der Endometriose ist das oberste Ziel, diese Schmerzen so schnell wie möglich zu kontrollieren. Denn je länger Schmerzen bestehen, desto schwieriger sind sie zu behandeln. Therapie der Wahl ist ein multimodaler Ansatz. Der urologische Vortrag befasste sich mit Prostatitis, Schmerz und Obstruktion – drei Krankheitsbilder, die zwar in drei eigenständigen Leitlinien beschrieben werden, aber zu durchaus ähnlichen Beschwerden führen können. Eine genaue Abklärung und eine Ausschlussdiagnostik sind daher von zentraler Bedeutung. Lautet die Diagnose Chronic Pelvic Pain, ist auch hier die multimodale Behandlung angezeigt.
Von chirurgischer Seite wurde der Steißbeinschmerz (Coccygodynie, coccyx = griech. Kuckuck) beleuchtet, eine komplexe und quälende Schmerzerkrankung, an der Patienten oft jahrelang leiden und die alle teilnehmenden Berufsgruppen immer wieder intensiv beschäftigt. Sowohl in der Diagnostik als auch in der Therapie sind hierbei mehrere Fächer gefragt. Chirurgisch kann eine rektale digitale Untersuchung mit Palpation des Os coccygis Aufschluss geben, da man dadurch die Steißbeinspitze sowohl von außen als auch von innen spüren sowie Schmerztriggerpunkte und Verspannungen der Muskulatur ertasten kann. Weiters sollte ein Steißbein-Röntgen im Stehen und im Sitzen durchgeführt werden, eine MRT-Untersuchung des kleinen Beckens kann Aufschluss über entzündliche Prozesse und Tumore geben. Zusätzlich sind immer auch eine gynäkologische beziehungsweise urologische Untersuchung sowie eine Koloskopie notwendig, um die Diagnose zu sichern. Die Therapie ist abhängig davon, ob es sich um eine akute oder chronische Verlaufsform handelt, wobei die konservative Therapie wie immer an erster Stelle steht.
Im letzten Vortrag des ersten Blocks wurde die Rolle der Kontinenz- und Stomaberatung bei chronischem Beckenschmerz beleuchtet. Für die Pflegefachkräfte geht es zum einen um das Hin- und Zuhören, da die betroffenen Patienten oft jahrelang unter ihren Schmerzen leiden und dadurch einen erheblichen Leidensdruck haben. Es ist außerdem Aufgabe der Pflege, den Patienten die anatomischen Strukturen und physiologischen Vorgänge nahezubringen, um eine ungestörte Entleerung von Blase und Darm zu ermöglichen.
Spezielle Aspekte beim CBS
Im zweiten Block des Webinars wurden einige spezielle Aspekte des chronischen Beckenschmerzes besprochen, die nochmals sehr deutlich vor Augen führten, wie wichtig der multidisziplinäre Ansatz ist. Ein Thema war die viszerale Therapie durch physiotherapeutische Behandlung der Läsionsketten. Dabei geht es im Wesentlichen um einen multimodalen Zugang, der die vielfältigen strukturellen und anatomischen Verbindungen im gesamten Körper beziehungsweise im Beckenbereich berücksichtigt. Mit dieser physiotherapeutischen Methode kann es gelingen, von der rein symptomatischen in Richtung einer kausalen Therapie zu kommen.
Ein Thema, das bei Krankheitsbildern im Beckenbereich nicht fehlen darf, sind Sexualfunktionsstörungen. Auch in Zusammenhang mit chronischem Beckenschmerz spielen sie eine Rolle, obwohl nur rund eine von zehn Frauen tatsächlich betroffen ist. Auf der anderen Seite leiden Frauen mit tiefer Dyspareunie oder Vaginismus oft auch an chronischem Beckenschmerz. Etwa 15 Prozent aller gynäkologischen Konsultationen erfolgen aufgrund von Beckenschmerzen. Dazu zählt auch ein relativ unbekanntes Syndrom: das Pelvic Congestion-Syndrome (PCS), das durch dumpfe, meist linksseitige Schmerzen beim Geschlechtsverkehr oder während der Menstruation gekennzeichnet sein kann. Obwohl knapp ein Drittel aller Patientinnen mit chronischen Unterbauchschmerzen an diesen „Krampfadern“ der linken Nierenvene, den Eierstockvenen oder dem Venengeflecht im kleinen Becken leidet, bleibt die Schmerzursache meist lange unentdeckt. Die First-Line-Therapie erfolgt radiologisch durch eine Embolisation, welche die oft jahrelange Leidensgeschichte in fast allen Fällen in einer knappen Stunde beenden kann.
Eine relativ seltene Pathologie stellt hingegen das chronische Schmerzsyndrom Pudendus-Neuralgie dar, das meist durch eine mechanische Kompression oder Läsion des Schamnervs verursacht wird und mit heftigen einschießenden, brennenden Schmerzen im Genital- sowie Analbereich einhergeht. Eine chirurgische Therapieoption ist eine transgluteale oder laparoskopische Befreiung des irritierten oder eingeklemmten Nervus pudendus, die allerdings sehr viel Erfahrung erfordert. Alternativ kann mit Lidocain oder mit Botulinum-Neurotoxin infiltriert werden.
Blasenschmerzsyndrom: die Qual mit der Blase
Der dritte Bock des Webinars befasste sich mit dem „Bladder Pain Syndrome (BPS)“ (früher oft auch interstitielle Zystitis) und versuchte unter anderem, dem Mysterium dieses Symptomenkomplexes auf die Spur zu kommen. Bei diesem Symptomenkomplex steht der Schmerz im Mittelpunkt, der von irritativen Blasensymptomen begleitet wird. Obwohl das Symptom bereits vor über 100 Jahren erstmals beschrieben wurde, ist seine Ätiologie bis heute ungeklärt. Für Konfusion sorgt das mangelnde Wissen um die Krankheit und die Vielzahl an möglichen Begleit- oder Grunderkrankungen, welche mitbehandelt oder eben ausgeschlossen werden müssen. Das BPS führt bei Ärzten daher oft zu Ratlosigkeit sowie Fehldiagnosen und bei den Patienten zur Verzweiflung – Depressionen sind eine häufige Begleiterscheinung des BPS. Ein strukturiertes diagnostisches Vorgehen ist daher erforderlich. Die Zystoskopie stellt für die Diagnose und bei manchen Therapieansätzen (unter Narkose) eine zentrale Säule sein, zum Beispiel zum Ausschluss von Tumoren. Generell wird die Diagnose aber immer klinisch gestellt, niemals durch die Blasenspiegelung allein.
Für die Therapie ist zunächst festzustellen, ob es Läsionen in der Blasenwand gibt (Hunner’s lesions), die verödet werden können. Für die „Non-Hunner-BPS“-Formen gilt ein therapeutisches Stufenschema. Physio- und verhaltenstherapeutische Maßnahmen haben hier Priorität und können einen wertvollen Betrag leisten. So kann mithilfe der Relaxation eine 50-70%-ige Verbesserung der Beschwerden erreicht werden. Auch Antihistaminika sind sinnvoll, da die Mastzelle im Rahmen einer Entzündungsreaktion mit gesteigerter Histamin-Ausschüttung nach Aktivierung von H1- und H2-Rezeptoren eine entscheidende Rolle spielt. Eine zystoskopische Überdehnung der Blase unter Narkose kann eine Verbesserung der Symptomatik über mehrere Monate bringen, Botox-Injektionen und die Neuromodulation scheinen ebenfalls zu funktionieren.
Den Abschluss des Online-Seminars machte das heiß diskutierte Thema über den Einsatz von Cannabinoiden, das von Seiten des Pflegedienstes beleuchtet wurde.
Das Resümee von Meller und Veit-Rubin: „Wir freuen uns, mit der virtuellen Jahrestagung einen Schritt in die Digitalisierung gewagt zu haben und sind zuversichtlich, dass uns dies für die Zukunft viele neue Möglichkeiten eröffnet. Unsere Motivation und den Innervationsgeist nehmen wir für 2021 mit nach Linz und hoffen dort auf eine Tagung, bei der auch der persönliche Austausch wieder möglich ist!“
Save the date: Die 30./31. Jahrestagung der MKÖ findet am 15. und 16. Oktober 2021 (hoffentlich) wieder im LFI Linz auf der Gugl statt.
MKÖ: Engagement seit 30 Jahren
Blasen- und Darmschwäche sind ein häufiges Problem, welches zumindest 10 Prozent der österreichischen Bevölkerung betrifft. Begonnen hat die systematische Inkontinenzhilfe 1990 in Linz, als sich ein kleiner Kreis von Ärztinnen und Ärzten, wie auch Angehörigen des diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegeberufs und der Physiotherapie zusammenschloss. Seit Bestehen ist es das Ziel der Medizinischen Kontinenzgesellschaft Österreich (MKÖ), Maßnahmen zur Prävention, Diagnostik und Behandlung der Inkontinenz sowie der einschlägigen Forschung, Lehre und Praxis zu fördern. Dazu gehört die spezielle Schulung des medizinischen Fachpersonals ebenso wie die gezielte Öffentlichkeitsarbeit zur Information und Beratung von Betroffenen und ihren Angehörigen. Heute ist die MKÖ maßgeblich an der Vernetzung von Fachärzten, Ambulanzen, Allgemeinmedizinern, Physiotherapeuten, Pflegepersonen und der Öffentlichkeit beteiligt. Einen wesentlichen Beitrag dazu liefern auch die seit 1991 jährlich abgehaltenen Jahrestagungen sowie die Kontinenz-Stammtische in Oberösterreich, Wien und Salzburg sowie die Kontinenzmeetings in Kärnten.