Sehr geehrter Herr Abgeordneter Dr. Huainigg!
Gerne antworte ich öffentlich im Namen des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes auf Ihren Gastkommentar vom 14. Juli 2007 in „Die Presse“ Seite 37, mit der Überschrift „Na dann, Mahlzeit“.
Sie nehmen in Ihrem Artikel zum Mustervertrag für die 24-h-Betreuung Stellung und beziehen sich dabei auch auf das Gesundheits-und Krankenpflegegesetz (GuKG). Sie schreiben von „zwei Paar Schuhen in der medizinischen Versorgung und Pflege“ und zitieren
weiters: „Von diplomierten Pflegekräften hört man in der öffentlichen Diskussion wenig bis gar nichts“.
Das Österreichische Gesundheits- und Krankenpflegegesetz ist eines der modernsten und wir werden gerade darum besonders im deutschsprachigen Raum beneidet. Dieses Gesetz bedarf jedoch der Umsetzung mit allen Konsequenzen die es grundlegend beinhaltet. Dazu ist es erforderlich, dass sich die Pflege in Wissenschaft und Praxis im Gesundheits- und Sozialwesen, im System bestehend, wiederfindet -und genau das trifft in Österreich nicht zu.
Es ist anhand der Statements und Kommentare ersichtlich, wer für und über die Pflege öffentlich spricht: Ärzte, Soziologen, Pädagogen, Juristen. Weniger öffentlich antworten: Sozialarbeiter, Logopäden, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Diätologen, Gesundheitsberater, Ökonomen. Statements, die aus der Pflege kommen, werden kaum bis gar nicht verstanden. Es gibt kein mediales Selbstverständnis, zu Pflegethemen auch die Pflegevertreter zu befragen.
Die Pflege selbst bekommt in diesem Zusammenspiel, systemisch gesehen, die Rolle der Empfängerin. Alle obengenannten Professionen geben ihr Spezialwissen untersuchend, diagnostizierend, initiatorisch, vorschreibend, beratend, informativ, schulend, therapeutisch weiter. Solange ein Mensch/ Patient Instruktionen und Behandlungen unabhängig von einer Pflegeperson in seinem Alltagskontext selbstständig verarbeiten kann, ist die Pflege durch eine Pflegefachkraft primär nicht erforderlich.
Das Dilemma: es wird öffentlich von Pflege und Betreuung gesprochen, ohne dass diese Begriffe in Österreich je definiert wurden. Pflege ist auch Betreuung und wer oder was bestimmt den Unterschied? Warum ist das so? Es fehlen in Österreich grundlegende Daten im Sinne der Pflege bzw. Pflegewerte. Das Management stützt sich auf Leistungserfassung von Quantität und Zeit. Volkswirtschaftliche Verhältniszahlen aus der Pflege, Ergebnisse aus Pflegewissenschaft, Pflegeökonomie, Pflegeinformatik, fehlen. Pflege als Wissenschaft wurde im Vergleich zu vielen anderen Ländern Europas und der Welt ignoriert. Die Pflege in Österreich hat
auch „ihre politische Geschichte“, diese Auswirkungen sind heute noch spürbar. Aus der Pflege heraus haben sich obengenannte Professionen entwickelt mit Zugangsbestimmungen auf Maturaniveau und der Möglichkeit eines Studiums.
Die Pflege – Ausbildung in Österreich findet in einer berufsbildenden mittleren Schule statt, Stundenausmaß und Inhalt entsprechen dem Niveau einer Fachhochschule. Das gelehrte Wissen wird aus Büchern bezogen die meist aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt wurden und werden, andere kulturelle Wurzeln haben und Ergebnisse einer langjährigen Pflegeforschung und Pflegewissenschaft sind. Die Pflegetätigkeit steht am Ende einer Anweisungskette, ausgenommen Tätigkeiten laut §14 des Gesundheits- und Krankenpflegegesetzes.
Die Pflege in Österreich hatte bis 2005 keinen Lehrstuhl in Pflegewissenschaft. Ergebnisse Österreichischer Grundlagenforschung in der Pflege gibt es (noch) nicht. Haben Pflegepersonen aus Eigenmotivation in anderen Fächern, wie meist der Soziologie oder Pädagogik ihr Wissen erweitert, war es von persönlichem Interesse. Für Lehre, Management und Führungsaufgaben ist ein Studium nach wie vor nicht erforderlich.
Die Pflege kann sich in Anbetracht fehlender qualitativer (Vergleichs-) Daten kaum sachlich äußern. Wird eine Harnflasche in einem bestimmten Zeitrahmen 500 mal verabreicht steht diese Zahl in keinem qualitativen Verhältnis, wenn stattdessen Patienten 200 mal zur Toilette begleitet werden. Esseneingeben ist eben nicht „nur Esseneingeben“; es hängt davon ab, ob der pflegebedürftige Mensch kauen und schlucken kann oder womöglich ein kognitives Umsetzungsproblem hat. Werden Menschen gefördert und gefordert um von einer Abhängigkeit in die Nichtabhängigkeit zu kommen? Wird zu Gunsten seiner Rehabilitation gearbeitet? Werden Menschen mit Inkontinenz zur kontrollierten Harnausscheidung trainiert, der Konsum von teuren Hygieneschutz- Einlagen dadurch vermindert und werden womöglich Hautschäden verhindert? Krankheiten müssen im Gesundheits-und Sozialkontext medizinisch und pflegerisch gemanagt werden, versorgen alleine ist zuwenig.
Wird vom Staat Geld für die Pflege bereitgestellt muss sie bedürfnis- und bedarfsorientiert eingesetzt werden. Es ist eine Pflegeeinschätzung und eine Pflegebewertung von fachkompetenten Pflegepersonen vorzunehmen. Die fachliche Kontrolle und Begleitung muss organisiert und etabliert werden, Pflegeergebnisse müssen bewertet werden um zukünftige Entwicklungen zu steuern, wie Forschungsergebnisse, Rückfluss in die Lehre, Auswirkungen im Gesundheitswesen und dgl.
Dieses 24-h-Betreuungsgesetz ist ein „Reparaturgesetz“. Wird Pflege aus dem Ausland zugekauft, müssten Mechanismen automatisch in Gang gesetzt werden, um ein gutes Naht- und Schnittstellenmanagement zu den Gesundheitseinrichtungen zu ermöglichen. Sprachbarrieren, unterschiedliche europäische Ausbildungsniveaus in der Pflege sowie divergierende Gesetzesgrundlagen der Länder sind im Sinne der patientenorientierten Qualitätssicherung als Faktum zu behandeln. Agieren die politisch Verantwortlichen ohne Pflegevertreterinnen nach dem Motto „wer zahlt schafft an“, wird die Pflege weiterhin und unabhängig davon, Patienten pflegen – dazu muss sie nicht laut und öffentlich werden – solange, bis das System in sich zusammenbricht. Die Generation, die Pflege derzeit leistet, ist ein Auslaufmodell und für den Nachwuchs nicht attraktiv (hohe Arbeitsbelastungen, unregelmäßige Dienste, Nacht- und Wochenendarbeit). Die Ansprüche der Lerninhalte sind entwicklungsbedingt gestiegen, sodass es bereits in der Ausbildung zu einer hohen Drop-Out-Rate kommt.
Die Pflege hat so viel Arbeit, Pflegepersonen kompensieren täglich den auch einsparungsbedingten Pflegepersonalmangel. Pflegepersonen der Basis sind ihren Institutionen verpflichtet, d.h. sie werden sich hüten öffentlich Kritik zu äußern.
Pflegepersonen sind über all die Jahre müde geworden sich ständig für das Pflegeverständnis einzusetzen und zu rechtfertigen. Pflegepersonen arbeiten für und mit pflegeabhängigen Menschen in der Zeit, wo pflegeberufsfremde Interpreten über Pflege öffentlich sprechen und glauben Pflege verstanden zu haben. Die Pflege weiß was Pflege tut und respektiert das Wissen und Können anderer Berufe. Es entsteht jedoch öffentlich der Eindruck, dass daran gezweifelt wird, was Pflege tut. Politisch gesehen hat die Pflege in Österreich den Stellenwert eines Hilfsberufes. Pflege braucht aber erforschte Pflegedaten um im Pflegesetting nicht nur traditionelles Erfahrungswissen, sondern evaluiertes, begründetes Pflegewissen anzuwenden. Die Laienpflege muss fachlich unterstützt und organisiert werden um teure Pflegefolgeschäden, die aus Unwissenheit entstehen, zu verhindern.
Mit freundlichen Grüßen
Franziska Perhab DGKS
2. Vizepräsidentin