Linz / Wien, 12. November 2019 – Mitte Oktober fand heuer zum 29. Mal die interdisziplinäre wissenschaftliche Jahrestagung der Medizinischen Kontinenzgesellschaft Österreich (MKÖ) statt. Die diesjährige Veranstaltung widmete sich unter anderem zwei Schwerpunkten: der Digitalisierung im medizinischen Bereich und den Besonderheiten im Umgang mit Patienten aus anderen Kulturen. Erstmals präsentierten die Arbeitsgemeinschaften der Gesellschaften für Urologie, Chirurgie sowie Gynäkologie Themen aus ihrem Fachbereich. Mit der Première eines Frühstück-Workshops gab man Frühaufstehern die Gelegenheit, ihr Wissen im Bereich der Urodynamik zu vertiefen. Den krönenden und humoristischen Abschluss bildete der Vortrag von Dr. Roman F. Szeliga, dem ersten CliniClown Österreichs. Eine Auswahl an Vorträgen wird es ab Ende November erstmals auf dem neuen YouTube-Kanal der MKÖ geben: www.youtube.com/kontinenz
Die Jahrestagung der Medizinischen Kontinenzgesellschaft Österreich (MKÖ) ist seit knapp 30 Jahren eine einzigartige Möglichkeit der interdisziplinären Weiterbildung und des Erfahrungsaustausches für all jene Fachgruppen, die sich mit Inkontinenz, Blasen- und Darmfunktionsstörungen beschäftigen. Rund 350 Ärzte, Pflegepersonen, Physiotherapeuten und Hebammen folgten heuer der Einladung der beiden Kongresspräsidenten Martina Signer, DGKP, Kontinenz- und Stomaberaterin am Ordensklinikum Linz, und HR Univ.-Prof. Dr. Helmut Madersbacher, Univ.-Klinik für Neurologie, Innsbruck. Für das Tagungspräsidium war es zugleich der Abschied aus den aktiven Funktionen in der Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund appellierte Signer: „Wir freuen uns, wenn Sie von der Idee, die hinter der MKÖ steht, etwas in Ihren Arbeitsalltag mitnehmen, sodass Sie im Idealfall ein Stück weit so für dieses wichtige Thema brennen, wie Helmut Madersbacher und ich in den letzten 25 bzw. 29 Jahren – für das Thema Kontinenz und für mehr Lebensqualität für die Betroffenen.“ Nach einem Jahr intensiver Vorbereitung präsentierten Signer und Madersbacher ein spannendes Programm mit Blick über den Tellerrand.
Dies gelang bereits mit den vier Parallel-Workshops zum Auftakt, in denen Themen wie Stuhlentleerungsstörung, Dauerharnableitung, Sexualität und „multitasker“ Beckenboden im Fokus standen, und setzte sich im ersten Block „Humane Digitalisierung im Krankenhaus“ fort.
Digitalisierung in der Medizin: quo vadis?
Die Digitalisierung ist der Innovationstreiber unserer Gesellschaft. Experten informierten, welche Chancen und „scheinbar unbegrenzte Möglichkeiten“ sie bringt, zeigten aber auch ihre Grenzen und Risiken auf. So bedeutet die volldigitale Krankenakte nicht nur Entlastung. Die Implementierung geht nicht einfach nebenher, sondern verschlingt externe Kosten und beträchtliche Ressourcen. Probleme bereiten die unterschiedlichen Systeme auch zwischen Pflege und Ärzten sowie in der Vernetzung der Krankenhäuser untereinander.
Hingegen ist die Roboter-assistierte Chirurgie mit dem System Da Vinci ein notwendiges Zukunftsmodell (und kein medizinisches „Spielzeug“), was eindrucksvoll am Beispiel der Prostatektomie demonstriert wurde. Vorteile der robotischen Prostata-Entfernung sind etwa die Identifikation feinster Schichten, genaueste Präparation mit Erhaltungsmöglichkeit des lokalen Gefäß-Nerven-Bündels, ein minimaler Blutverlust und postoperativ eine schnellere Erholung der Kontinenz und Potenz. Allerdings gilt es zu bedenken, dass immer noch der Urologe hinter der Methode für das Ergebnis der Operation steht. Ein weiteres Positivbeispiel digitaler Angebote beschäftigte sich mit Kindern und Jugendlichen, die aufgrund von Blasenentleerungsstörungen regelmäßig einen intermittierenden Selbstkatheterismus (ISK) durchführen sollten. In der Pubertät nimmt die Bereitschaft zur regelmäßigen ISK-Anwendung oft ab, was der Ansporn war, gemeinsam mit Jugendlichen die „Kinder-Uro-App“ zu entwickeln. Die ersten Rückmeldungen sind positiv, die App mit dem diskreten Erinnerungsalgorithmus könnte ein zusätzlicher „Pfeil im Köcher“ sein, um die zur Vorbeugung von Harnwegsinfekten medizinisch notwendige Regelmäßigkeit des ISK zu erreichen.
Der letzte Vortrag dieser Session widmete sich der Frage: Wird die Videokonferenz den Kongressbesuch ersetzen, also auch den der MKÖ-Jahrestagung 2030? Die überraschende Antwort nach einem evolutionär gespannten Bogen, der ganz in Richtung „Nein“ ausgelegt war: „Ja“ – und zwar aus der Not heraus, Stichwort Klimawandel.
Kulturell-religiöse Besonderheiten
Wie ernst es das MKÖ-Tagungspräsidium mit dem Blick über den Tellerrand meinte, bewies der Nachmittagsblock „Blasen-, Darm- und Sexualstörungen – kulturell-religiöse Aspekte“. Unreinheit und Reinheit sind einflussreiche kulturell-religiöse Kategorien. Eine Schlüsselrolle spielen vor allem die Körperöffnungen und alles, was durch diese nach außen tritt, wie Blut, Harn, Stuhl oder Sexualsekrete. Somit stehen etwa muslimische Patienten vor der Frage: Darf man trotz Inkontinenz seine religiösen Pflichten ausüben? Neue Folder der MKÖ beschreiben, unter welchen Voraussetzungen Musliminnen und Muslime trotz Inkontinenz dies tun können – Ratschläge, welche die MKÖ in Abstimmung mit der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) erarbeitet hat. Diese sind, genauso wie die Miktionsprotokolle, in den Sprachen Türkisch und Arabisch kostenlos erhältlich. Zusätzlich zur Information für Patienten hat die MKÖ – ebenfalls in Abstimmung mit der IGGÖ – für Ärzte und Pflegefachkräfte einen Überblick über die wichtigsten Aspekte im Umgang mit muslimischen Menschen mit Harn- und/oder Stuhlinkontinenz erstellt. Das Merkblatt umfasst Themen wie die Kommunikation, Ausübung religiöser Pflichten, Intimsphäre und Scham etc. und soll dabei helfen, Barrieren ab- und ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Patienten aufzubauen.
Diskussion in Kleingruppen
Kleinere Gesprächsgruppen – die „Salons“ – rundeten das Programm des ersten Kongresstages ab. Erstmals wurden die Arbeitsgemeinschaften der Österreichischen Gesellschaften für Urologie, Chirurgie sowie Gynäkologie eingeladen, um unter dem Motto „hot topics with common interest“ aktuelle Themen aus den jeweiligen Fachgebieten zu präsentieren und mit dem bunt gemischten Publikum zu diskutieren. Ein vierter Salon widmete sich physio- und sporttherapeutischen Konzepten bei Inkontinenz. Während dieser durchaus lebhaften Sitzungen konnten die Teilnehmer die ganze Zeit anwesend sein oder sich zwischen den Salons bewegen.
Den Auftakt am Samstag bildeten Frühstücks-Workshops zu Themen rund um die Urodynamik. In vier Gruppen wurde diskutiert, wann die Funktionsmessung der Blase angezeigt ist, welche Messkatheter die richtigen sind, wie urodynamische Messungen zu beurteilen sind und welche Mess-Systeme es gibt. Die anschließenden Vorträge standen unter dem Motto „Im besten Alter“ und behandelten Aspekte des würdevollen Alterns und welche neuen Technologien dazu einen wertvollen Beitrag leisten können.
Im besten Alter: Jeder will alt werden und keiner will alt sein
Harninkontinenz hat eine hohe Prävalenz bei geriatrischen Patienten. Etwa jede dritte Frau über 80 ist inkontinent. Eine mögliche Ursache ist die Multimedikation, denn viele in der Geriatrie verordnete Medikamente können eine Inkontinenz auslösen oder verschlimmern. Wenn es gelingt, solche Präparate ab- oder durch „kontinenzfreundlichere“ zu ersetzen, kann eine Linderung des unwillkürlichen Harnverlusts erreicht werden. Sind die Patienten Diabetiker, haben ihre in der Funktion beeinträchtigten Nerven Auswirkung auf den Harn- und Darmtrakt. Steht im Falle einer Stressinkontinenz eine Bandoperation (Tension-free Vaginal Tape, TVT) zur Debatte, muss die grundsätzliche Operationsfähigkeit gewährleistet sein. Ist sie gegeben, wurden konservative Möglichkeiten ausgeschöpft und besteht ein Operationswunsch, so ist ein TVT-Band eine sichere und effektive Methode auch bei betagten Frauen, jedoch gibt es ein erhöhtes Risiko für postoperative Harnwegsinfekte und eine de-Novo Dranginkontinenz.
Diskutiert wurde auch, ob Antibiotika die einzige Therapieoption bei rezidivierenden Harnwegsinfektionen sind, die zum Beispiel auch durch eine dysfunktionelle Miktion – also durch langes Zurückhalten von Urin – ausgelöst werden können („erwachsene Kneifkinder“). Tatsächlich gibt es mehrere Alternativen, die zum Erfolg führen können. So zum Beispiel, wenn man den Sinn und Wert einer entspannten Miktion erklärt. Auch mit Entspannungsübungen für den Beckenboden, mit oder ohne Bio-Feedback, kann der gewünschte therapeutische Effekt erzielt werden, und manch‘ Odyssee mit wiederholter Antibiotikagabe nimmt ein Ende.
Last but not least war die Stuhlinkontinenz Thema dieser Session, die in drei von vier Fällen gleichzeitig mit einer Obstipation auftritt. Diese Tatsache ist wichtig in der Anamneseerhebung, da Patienten vordergründig die Stuhlinkontinenz beschreiben. Die richtige Konsistenz für das tägliche „Darm-Erfolgserlebnis“ kann in den meisten Fällen durch diätetische Maßnahmen, Entleerung des Enddarmes mit Zäpfchen oder Klistieren erreicht werden. Bei ausgeprägter Beschwerdesymptomatik ist auch die transanale Irrigation (TAI) eine gute Therapieoption, die jedoch eingeschult werden muss. Falls die konservative Behandlung nicht ausreicht und aufgrund des Leidensdrucks ein dringender Wunsch nach einer operativen Behandlung besteht, sollte zunächst die Intussuszeption bzw. die Rektozele operativ saniert werden.
Zertifiziert, geehrt und richtige Kommunikation gelernt
Ein wesentlicher Meilenstein in der knapp 30-jährigen Geschichte der MKÖ ist die Zertifizierung von Kontinenz- und Beckenbodenzentren (KBBZ), in denen Fachexpertise aus den Bereichen Urologie, Gynäkologie, Chirurgie, der Fachpflege aus dem Bereich Kontinenz- und Stomaberatung, der Physiotherapie und weiteren Disziplinen gebündelt sind. Das MKÖ-Zertifikat hat zum Ziel, solche kompetenten Anlaufstellen zu fördern und österreichweit einheitliche Qualitätsstandards in der Diagnostik, Therapie und Versorgung zu sichern. Im Rahmen der Jahrestagung 2019 wurde das MKÖ-Zertifikat an das Tauernklinikum Zell am See, das Krankenhaus Dornbirn und an das Klinikum Wels-Grieskirchen verliehen.
Einen feierlichen Höhepunkt der Tagung bildete die Ernennung von HR Univ.-Prof. Dr. Helmut Madersbacher, dem Gründer der MKÖ zum Ehrenpräsidenten der Gesellschaft. DGKP Dora Mair, Kontinenz- und Stomaberaterin der ersten Stunde, sowie DI Klaus Bernhardt, scheidender Vertreter der MKÖ-Förderkreisfirmen, wurden zu Ehrenmitgliedern ernannt. Im Rahmen der Mitgliederversammlung wurde DGKP Adelheid Anzinger als Nachfolgerin von Martina Signer in den Vorstand gewählt sowie die Physiotherapeutin Katharina Meller, die Christine Stelzhammer nachfolgt. Als krönenden Abschluss ließ Dr. Roman F. Szeliga – Internist, Autor und erster CliniClown in Österreich – die Teilnehmer durch Stimulierung der eigenen Lachmuskeln wissen, wie gute Kommunikation mit einer Prise Humor die tägliche Patienten-Arbeit erleichtern kann. Seine Tipps: klar, verständlich und mit Bildern sprechen, positive, kraftvolle Worte nutzen, die Patienten auch mal loben und ihnen ein ehrliches Kompliment machen – sowie Mut zum Humor. Denn: Ein gutes Gespräch dauert genauso lang wie ein schlechtes. Das Ergebnis ist jedoch ein ganz anderes.
Das Resümee von Signer und Madersbacher zur Jahrestagung 2019 und zu ihrem langjährigen Engagement in der MKÖ: „Wenn es uns gelungen ist, bei dieser Tagung mit der spannenden Vielfalt der Themenbereich rund um die Kontinenz neue beherzte Mitstreiter/innen auf dem Weg für eine bessere Lebensqualität der Betroffenen zu gewinnen, dann wird unser Lebenswerk weiter wachsen und gedeihen!“
Save the date: Die 30. Jahrestagung der MKÖ findet am 9. und 10. Oktober 2020 wieder im LFI Linz auf der Gugl statt.
MKÖ: Engagement seit 29 Jahren
Blasen- und Darmschwäche sind ein häufiges Problem, welches zumindest 10 Prozent der österreichischen Bevölkerung betrifft. Begonnen hat die systematische Inkontinenzhilfe 1990 in Linz, als sich ein kleiner Kreis von Ärztinnen und Ärzten, wie auch Angehörigen des diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegeberufs und der Physiotherapie zusammenschloss. Seit Bestehen ist es das Ziel der Medizinischen Kontinenzgesellschaft Österreich (MKÖ), Maßnahmen zur Prävention, Diagnostik und Behandlung der Inkontinenz sowie der einschlägigen Forschung, Lehre und Praxis zu fördern. Dazu gehört die spezielle Schulung des medizinischen Fachpersonals ebenso wie die gezielte Öffentlichkeitsarbeit zur Information und Beratung von Betroffenen und ihren Angehörigen. Heute ist die MKÖ maßgeblich an der Vernetzung von Fachärzten, Ambulanzen, Allgemeinmedizinern, Physiotherapeuten, Pflegepersonen und der Öffentlichkeit beteiligt. Einen wesentlichen Beitrag dazu liefern auch die seit 1991 jährlich abgehaltenen Jahrestagungen sowie die Kontinenz-Stammtische in Oberösterreich, Wien und Salzburg sowie die Kontinenzmeetings in Kärnten.
Kontinenz ist MKÖ!