Ketamin könnte künftig eine neue Behandlungsoption zur Prävention chronischer postoperativer und neuropathischer Schmerzen sein. Die Datenlage zu Wirkung, Sicherheit und Gebrauch in den vielfältigen Anwendungsfeldern ist allerdings noch gering. Eine neue Studie von ÖSG-Vorstandsmitgliedern bringt einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand.
Wien, 17. Februar 2020 – Das Anästhetikum und Analgetikum Ketamin wird seit den 1970er Jahren in der Notfallmedizin und Anästhesie eingesetzt, kommt jedoch heute wegen seiner psychotropen Wirkung als Anästhetikum eher wenig zum Einsatz. „Die weitere Erforschung von Ketamin ist allerdings durchaus lohnend. Es wirkt unter anderem an den vorrangig im Zentralnervensystem vorkommenden NMDA-Rezeptoren, die durch die Bindung von Ketamin blockiert werden können, und unterscheidet sich deutlich von anderen Schmerzmitteln“, erklärt OA Dr. Wolfgang Jaksch, Vorstandssekretär der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG), anlässlich der 19. ÖSG-Schmerzwochen. Die jährliche Informationskampagne der ÖSG steht heuer im Zeichen der Schmerzvorbeugung.
Eine aktuelle Arbeit von Vorstandsmitgliedern der ÖSG hat den aktuellen Forschungsstand zu Ketamin zusammengefasst: Das Medikament zeigt eine Reihe von Effekten an zahlreichen weiteren Rezeptoren, die zum Beispiel lokal-anästhetisch wirken, aber auch die Wirkung von Opiaten potenzieren. Weiters steigert Ketamin die Freisetzung von Dopamin und Noradrenalin. Zu diesen Sofortwirkungen kommen verzögerte Effekte, die möglicherweise die neuroimmune Interaktion beeinflussen. Diese komplexen Mechanismen machen Ketamin für verschiedene Einsatzgebiete interessant, auch für die Vorbeugung chronischer Schmerzen.
Einsatz zur Prävention chronischer postoperativer Schmerzen
Ketamin könnte bei bestimmten Patientengruppen das Risiko der Schmerz-Chronifizierung nach Operationen senken. Studien zeigten, dass niedrig dosiertes Ketamin vor, während und nach Operationen den Opioidbedarf postoperativ um 40 Prozent reduziert, und das ohne schwere Nebenwirkungen. Ketamin erwies sich auch als hilfreich bei der Behandlung opioid-resistenter akuter Schmerzen nach Operationen. Dr. Jaksch: „Es gibt daher die Empfehlung, Ketamin bei großen Eingriffen als Teil eines multimodalen perioperativen Schmerzmanagements einzusetzen.“
Einsatz bei chronischen neuropathischen Schmerzen
Da der NMDA-Rezeptor bei der Entstehung neuropathischer Schmerzen eine wichtige Rolle spielt, könnte Ketamin dazu beitragen, dass bei Patienten mit neuropathischen Schmerzen die physiologische Schmerzhemmung wiederhergestellt wird. Eine Vielzahl von Studien demonstrierte, dass Ketamin chronische Schmerzen mit neuropathischer Komponente wirksam lindert. „Allerdings wurden in den meisten Studien Ketamin-Infusionen untersucht, mit der oft nur eine auf wenige Stunden begrenzte Wirkung erreicht wurde. Die Datenlage zur Behandlungsdauer und der eingesetzten Dosierung ist sehr uneinheitlich. Zum Einsatz von Ketamin bei chronischem Schmerz haben wir leider noch keine Langzeitdaten“, erläutert Dr. Jaksch. Andere Verabreichungsformen (oral, transmukosal, Pflaster) sind in Entwicklung.
Ketamin und Krebsschmerz
Bei Krebspatienten, deren Schmerzen eine deutliche neuropathische Komponente haben, könnte Ketamin eine Reduktion der Opioid-Dosis erreichen. Auch wenn onkologische Patienten unzureichend auf Opioide ansprechen, kann Ketamin eine Option für die Schmerzbehandlung sein. Die Palliative Care Guidelines der European Society for Medical Oncology (ESMO) empfehlen den Einsatz von Ketamin zur palliativen Behandlung von Krebspatienten mit neuropathischen Schmerzen und bei komplexen neuropathischen und vaskulären Schmerzsyndromen, bei denen Opioide ihre Wirkung verloren haben.
Missbrauchspotential und Nebenwirkungen
Hinsichtlich der Nebenwirkungen ist vor allem die psychotrope Wirkung von Ketamin bei langfristiger Einnahme problematisch. Ketamin kann deutliche Psychose-ähnliche Effekte und kognitive Beeinträchtigungen hervorrufen. Da seit den 1970er Jahren Ketamin als „Partydroge“ missbraucht wird, gibt es aus den Beobachtungen dieses „Freizeitgebrauches“ mehr Daten zu langfristigen Nebenwirkungen als aus den spärlichen klinischen Studien mit kurzen Beobachtungszeiten. „Im Zusammenhang mit häufigem Ketamin-Konsum junger Menschen wird zwar eine Vielzahl von psychiatrischen und neurologischen Komplikationen beschrieben, Todesfälle durch Überdosierung sind allerdings selten und stehen zumeist in Zusammenhang mit der gleichzeitigen Einnahme anderer psychoaktiver oder sedierender Substanzen wie zum Beispiel Alkohol“, so OA Dr. Jaksch. „Ob im medizinischen Einsatz die psychotropen Nebenwirkungen von Ketamin beherrschbar sind und ob sich das Missbrauchspotenzial gering halten lässt, müssen weitere Studien zeigen.“
Quelle:
Jaksch W, Likar R, Aigner M: Ketamin: Einsatz bei chronischen Schmerzen und Depression. Wiener Medizinische Wochenschrift November 2019; 169 (15-16): 367–376