AT: „Ich habe großen Respekt vor der Pflege“

30. Januar 2020 | News Österreich, Politik | 0 Kommentare

Der Pflegenotstand bewegt die Menschen zu Innovationen, aber auch zu sonderbaren Ideen, wie man dieses Personalloch stopfen soll. Immer wieder gibt es Stimmen (auch wenn sie nur vereinzelt sind), die für eine Pflegelehre ab 15 plädieren. Aus diesem Grund haben wir die Kinder und Jugendpsychiaterin Dr. Marihan Abensperg-Traun zu einem Interview eingeladen. Wir trafen die  Kinder- und Jugendpsychiaterin, Mutter und grüne Politikern in einem Kaffeehaus in Wien.

Wie sehen sie den Pflegeberuf generell?
Ich habe großen Respekt vor der Pflege. Die Menschen leisten wirklich Einzigartiges. Ich kann mich noch an mein Pflegepraktikum auf einer Gerontologie erinnern. Es war für mich extrem emotional, sehr belastend und sehr anstrengend. Es gab Tage, an denen ich abends nahezu durchgeheult habe. Man erlebt hier nicht nur die schönen Momente des Lebens, sondern auch furchtbare Schicksale. Als Praktikantin, egal ob aus der Pflege oder aus der Medizin, bekommt man ja dann auch noch keine professionelle Supervision, um das Erlebte zu verarbeiten. Viele Teams, die ständig dieser Belastung ausgesetzt sind, erhalten ebenso keine Supervision. Hier startet dann der eine oder andere mit Selbstmedikation.

Was war für Sie zum Beispiel belastend?
Ich erinnere mich an meinen ersten Dekubitus, den es zu versorgen galt. Die Haut der Patienten hat großstellig gefehlt. Überall war Eiter, offene Stellen und allein durch den Geruch wäre ich fast ohnmächtig geworden. Ich hatte zusätzlich noch nichts gefrühstückt und es war später Vormittag. Die Szene ist derartig an meine Substanz gegangen.

Wurde das nicht im Team besprochen?
Das Team hat untereinander gesprochen, aber zu einer Begleitung kam es nie. Es gab wie gesagt keine Supervision. Für uns Praktikantinnen sowieso nicht. Da hieß es nur „Geh dorthin, mach das. Dann geh dahin, mach dies.“

Und die schönen Momente?
Die Zeit mit den Patienten zum Beispiel mit den Gesprächen. Hierzu hatte man vor allem Zeit, wenn man beim Essen unterstützt hat. Für beide Seiten war dies Quality time.

Warum sind Sie dann trotzdem in einen Gesundheitsberuf gegangen?
Ich bin ein sozialer Mensch und auch so erzogen worden. Meine Familie war groß. Ich wollte schon immer Kinderärztin werden. Ohne dieser Erziehung und diesen Werten wäre ich jetzt nicht dort wo ich bin. Als Kinder- und Jugendpsychiaterin braucht man ebenfalls viel Idealismus.

Wie sehen sie nun als Ärztin die Situation der Pflegefachkräfte?
Ich bewundere die Menschen wirklich, die diese derzeitige Arbeitssituation aushalten. Für mich ist die Frage, muss man das in dieser Weise aushalten und wie kann man Situationen verbessern. Wie kann man die Gesundheit der Pflegenden sicherstellen? Sie haben ja nichts davon, dass sie jemanden leidtun. Das reicht nicht. Die Menschen brauchen bessere Arbeitsbedingungen, mehr Freizeit und besondere Freizeitmöglichkeiten, die von den Unternehmen anzubieten sind. Wir müssen auf die Menschen schauen, die uns wichtig sind, nämlich die, die die Menschen pflegen. Wenn diese Menschen dauernd 12 Stunden unter Belastung stehen, fertig nach Hause gehen und nur noch auf morgen warten, um den nächsten Dienst zu absolvieren, gehen diese Menschen zu Grunde. Vor allem in Zeiten wie diesen, in der zum Beispiel die Grippewelle noch zusätzlich alles abverlangt.

Wie sieht es bei den Ärzten in ihrem Arbeitsbereich aus?
Wir haben in Österreich vieles verschlafen. In der Kinderpsychiatrie, ein Bereich wo wir ganz dringend mehr Ärzt*innen brauchen, werden noch immer keine neuen Ressourcen geschaffen. Hier muss sich die Ausbildungsordnung ändern, denn hier haben wir eine 1:1 Regelung. Natürlich darf ein Primar und ein Oberarzt 2 Assistenzärzte ausbilden, aber das reicht nicht. Da wäre es wirklich Zeit etwas zu ändern und aufzumachen.

Wieder zurück zur Pflege. Wo sehen Sie hier das Problem?
Es ist einfach unattraktiv geworden in die Pflege zu gehen. Das muss sich einfach ändern. Ich glaube aber absolut nicht, dass die Pflegelehre der Weisheit letzter Schluss ist. Der Staat tritt hier als „Gefährder“ auf, um heranwachsende zu traumatisieren und in vorprogrammierte psychische Krisen zu werfen, wenn dies in dieser Formwirklich umgesetzt werden würde.

In den sozialen Medien kommt dann immer das Gegenargument: „Ich habe ha mit 16 Jahren auch schon ertragen müssen. Wir muten den Jungen zu wenig zu…“ Wie sehen sie das als Kinderpsychiaterin?
Mit 16 ist man noch keine ausgereifte Persönlichkeit und die Persönlichkeitsentwicklung und die Plastizität des Gehirns ist in diesem Alter noch nicht abgeschlossen. Das geht eigentlich bis 20 Jahre. Mit 30 Jahren baut sie dann wieder ab, aber das ist eine andere Geschichte. Ich sehe die Gefahr in der Jugend, wo es primär darum geht, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Loslösung vom Elternhaus als Entwicklungsschritt, Loslösung von den engen Familienstrukturen, um das eigene zu entwickeln. Wenn man in dieser sensiblen Phase die Jugendlichen diesen schwierigen Situation mit Grenzerfahrungen aussetzt, wenn es um Leben oder Tod geht oder um emotional belastende Krankheiten (chronische). Das macht ja auch etwas mit den Jugendlichen. Es entsteht dann oft ein Gefühl der Hoffnungs- oder Mutlosigkeit. Das hat man ja selbst auch, wie man an einem kleinen Beispiel, bei einem traurigen Film sieht, der einen aufwühlt. Man denkt darüber nach. Genauso muss man es sich mit dem menschlichen Gehirn vorstellen. Auch wenn man direkt gar nicht weiß, dass es etwas mit einem macht, arbeitet das Gehirn dennoch weiter und es verändert einen.

Auch wenn einige Jugendliche meinen, es macht ihnen nichts aus und sie sind es gewohnt, darf man die Auswirkungen nicht unterschätzen. Ebenfalls bei pflegenden Angehörigen – wenn Eltern, Großeltern krank sind. Da gibt es ja auch Studien, dass das Trauma nicht gleich auftauchen muss, sondern erst 3-4 Jahre später auftreten kann. Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Allein bei Kindern und Jugendlichen, die ihre Angehörigen pflegen, eine Bezugsperson, kann es oft mit depressiven Erkrankungen oder psychosomatischen Beschwerden einhergehen, oder Lernschwierigkeiten. Oder sie wählen die soziale Isolation und denken über die Sinnhaftigkeit des Lebens nach.

Was wäre für Sie das ideale Alter, um einen Pflegeberuf zu wählen?

Vielleicht gibt es nicht das ideale Alter für einen Pflegeberuf. Es hängt von der eigenen Persönlichkeit ab. Es ist nicht jeder für die Pflege geeignet. Ich glaube, das ist nicht altersspezifisch. Jedenfalls keine Vorverlegung auf das 15 Lebensjahr am Krankenbett. Man muss schon die „richtige“ Persönlichkeit mitnehmen. Man muss auf jeden Fall belastbar sein, man braucht auch eine gewisse Stabilität des „Ichs“ – eine ICH-Struktur und ICH-Stabilität. Alleine entwicklungspsychologisch ist es mit 15 Jahren definitiv nicht der Fall. Aber mit 18 kann man es sich ansehen. Es gibt aber auch 20 jährige, die noch nicht stabil sind oder die notwendige Persönlichkeit mitbringen. Ab 18 kann man es mal anbieten, es langsam angehen, mit viel Information im Voraus – nicht sofort ans Bett stellen, die Grundkenntnisse vermitteln. „Wie gehe ich mit einem anderen Menschen um, der in einer Notsituation ist, oder der manches nicht selbst machen kann.“

Das Problem ist, dass Systeme ja oftmals missbraucht werden. Wenn man jetzt sagt, man lässt Jugendliche nicht ans Bett, kann man in der Praxis oft nicht sicher sein. Ich kenne das selbst von verschiedenen Spitälern; ich war auch in unterschiedlichen Spitälern, im Zuge meiner Ausbildungen. Wenn es dann einen Mangel an Personal gibt, dann wird auf jede Ressource zurückgegriffen. Wenn, dann müsste es wie ein Schulsystem sein, wenn man weiß, die gehen zuerst in eine Klasse und werden nicht gleich in die Praxis abgezogen und ans Bett gestellt. Viele beziehen sich bei der Pflegelehre auf die Schweiz, doch hier gibt es nachweislich eine hohe Dropout-Rate.

Wenn es auch zu einer Arbeitslosenzwangsrekrutierung für die Pflege kommen würde? Zum Beispiel „Arbeitslose in die Pflege…“

Das wäre meiner Meinung nach ein Horror. Ich möchte nicht gepflegt werden von jemanden, dem das gar nicht freut und der dazu „verdonnert“ wurde.

Wir müssen doch unseren Pflegemangel lösen…

Da müssen wir, der Staat, dafür sorgen, dass es bessere Bedingungen gibt. Da wäre das erste die Bezahlung und die Supervision. Nämlich verpflichtende, begleitende Supervision und nicht irgendwann, wenn das Team es sagt. Denn das Team sagt es dann, wenn es bereits zu spät ist. Das ist ja auch ein Punkt, dass in einem System das Gefühl gegeben wird „ihr werdet das schon schaffen“ und dann ist es aber gar nicht so. Man nimmt die Hilfe auch oftmals nicht in Anspruch, weil man sich geniert oder sich nicht sagen traut, dass man Hilfe benötigt.

Es muss sich also viel ändern…

Ja natürlich und das betrifft die Leute im System und natürlich die Politik. Dies war für mich auch ein Grund in die Politik zu gehen. Hier versuche ich tagtäglich, neben meiner Arbeit als Kinder- und Jugendpsychiaterin und meiner Rolle als Mutter, einen Weg zu finden die Dinge zu ändern.

Danke für das Interview

Autor:in

  • Markus Golla

    Studiengangsleiter "GuK" IMC FH Krems, Institutsleiter Institut "Pflegewissenschaft", Diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger, Pflegewissenschaft BScN (Umit/Wien), Pflegewissenschaft MScN (Umit/Hall)