AT: Gesundheitsgipfel: Radikales Umdenken unter der Prämisse „Heilen statt Kranksparen“ gefordert

4. Dezember 2017 | News Österreich | 0 Kommentare

Anteil der älteren Bevölkerung verdoppelt sich bis 2050 – Gesundheitspolitik muss „längere Lebenszeit bei hoher Qualität“ ermöglichen

Wien (OTS) – Die Bevölkerung wächst und altert gleichzeitig rasant: „Während derzeit in etwa 10 Prozent der Weltbevölkerung älter als 65 Jahre sind, werden es 2050 bereits 22 Prozent sein“, warnt der renommierte deutsche Allgemeinmediziner und „Aufklärer“ Dietrich Grönemeyer anlässlich des „Ersten Österreichischen Gesundheitsgipfels“. Er fordert in einer sehr emotional aufgeladenen Eröffnungsrede vor mehr als 300 Zuhörern bei der von der Wiener Ärztekammer veranstalteten Tagung ein „radikales Umdenken in der Gesundheitspolitik unter der Prämisse ‚Heilen statt Kranksparen‘“.

Grönemeyer machte deutlich, dass Investitionen im Gesundheitssystem nicht primär unter dem Aspekt der Kosten begriffen werden sollten. Vielmehr sollte der damit verbundene volkswirtschaftliche Nutzen in den Vordergrund gestellt werden. Investitionen in das Gesundheitswesen seien Investitionen in die Entwicklung der Gesellschaft, und zwar im ganzheitlichen Sinn:
wirtschaftlich, ökologisch und sozial. Gesundheit sei „kulturerhaltend und kulturschaffend“, so Grönemeyer.

Auch für den Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, stellen der technologische Fortschritt und der demografische Wandel Deutschland wie Österreich „vor eine riesige Herausforderung, die auch das Gesundheitssystem grundlegend verändern wird.“ Mit zunehmender Lebenserwartung würden auch Ansprüche an die gesundheitliche Versorgung und Versorgungssicherheit steigen. Aufgabe der Politik sei es, eine ausgewogene Balance zwischen staatlichen und privaten Leistungen und Anbietern sicherzustellen sowie bessere Rahmenbedingungen für Wettbewerb und Effizienz zu schaffen. Die Erfahrung anderer EU-Länder könne dabei helfen.

Dis Referenten unter internationaler Besetzung beschäftigten sich vor allem mit der Frage, ob Sozialstaaten ihre Gesundheitssysteme überhaupt noch finanzieren können und wie die Politik auf die aktuellen Herausforderungen reagieren kann, um den Spagat zwischen Versorgungssicherheit auf der einen und Effizienz und Wettbewerb auf der anderen Seite zu gewährleisten.

Gesundheit – Ökonomisches Potenzial oder Kostenfaktor?

Michael Stolpe vom Institut für Weltwirtschaft der Universität Kiel erteilte dabei der Politik den Auftrag, „den Menschen zu helfen, ihren Wunsch nach längerer Lebenszeit bei hoher Qualität in Erfüllung gehen zu lassen, mit anderen Worten: der expandierenden Nachfrage ein qualitativ hochwertiges und mit der Nachfrage expandierendes Angebot entgegenzustellen.“

Eine Schlüsselrolle spielt dabei für Stolpe ein gut entwickeltes und sich stetig weiter entwickelndes Gesundheitswesen: „Es muss seine Produktivität durch die Absorption neuen medizinischen Wissens immer weiter steigern, und zwar einerseits unter anderem durch eine noch bessere Aus- und Weiterbildung seiner Mitarbeiter und andererseits durch die effiziente Adoption relevanter technologischer Innovationen.“

Diese Innovationen würden oft von großen internationalen Unternehmen angeboten, die vielfach durch Patente abgesicherte Monopolmacht hätten und dazu neigten, die geringe Preissensitivität der effektiven Nachfrage in solidarisch finanzierten Gesundheitssystemen auszunutzen, um hohe Preise und Gewinnmargen durchzusetzen. Um dieser „Marktmacht der Technologieanbieter in Zulassungs- und Preissetzungsverfahren“ wirksam entgegentreten zu können, bräuchten Länder mit solidarisch finanzierten Gesundheitssystemen effiziente Verfahren der vorausschauenden Technologiebewertung, einschließlich ökonomischer Evaluationen.

Das in der öffentlichen Diskussion oft gebrauchte Schlagwort „Kostenexplosion“ lässt Stolpe so nicht gelten, ganz im Gegenteil:„Der medizinische Fortschritt lässt die Kosten zusätzlicher qualitätsbereinigter Lebensjahre sinken.“

Individualisierte Therapien bringen „Revolution in der Medizin“ – Stärkung der Prävention von zentraler Bedeutung

Vor einer modernen Medizin, die vollkommen unreflektiert nach dem Modell der industriellen Produktion und nach ausschließlich ökonomischen Gesichtspunkten gesteuert wird, warnte der Medizinethiker Giovanni Maio, der an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg lehrt: „Dadurch gerät die Medizin in einen Strudel, der ihre eigenen Werte auf den Kopf stellt.“

Ärztinnen und Ärzte müssten mit Entschiedenheit verdeutlichen, dass das, was der kranke Mensch von ihnen erwartet, etwas anderes ist als das, was das politische System gegenwärtig aus den Ärztinnen und Ärzten machen möchte: „Zur ärztlichen Logik gehört ein ganzheitliches Denken, ein Wille, zunächst den ganzen Menschen sehen zu wollen, bevor man als Arzt behandelt. Daher sind die Ärztinnen und Ärzte selbst dazu aufgerufen, zu verdeutlichen, worin ihre eigentliche Leistung besteht.“

Denn in einem ökonomisierten und industrialisierten System werde die prosoziale Einstellung der Ärztinnen und Ärzte immer mehr zur Nebensache.

Gesundheitsförderung statt Krankheitsbekämpfung

In Österreich wird im öffentlichen Gesundheitssystem nur behandelt, wer krankgeschrieben ist. Wer Prävention betreiben möchte, muss zahlen, wurde von den Referenten des „Ersten Österreichischen Gesundheitsgipfels“ massiv kritisiert. Die Sozialversicherung zahle nur bei Krankheit, präventivmedizinische Maßnahmen würden nicht honoriert, lautete die Kritik.

Für Volker Amelung, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands Managed Care und Professor für Internationale Gesundheitssystemforschung an der Medizinischen Hochschule Hannover, ist Prävention von zentraler Bedeutung vor allem für die Nachhaltigkeit und Finanzierbarkeit der Gesundheitsversorgung, „und es unterstützt die Generationenfestigkeit“. Die Grundlage eines effizienten Gesundheitssystems sei die Überwindung der Grenzen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung, wobei die integrierte Versorgung ständig weiterentwickelt werden müsse.

Die Möglichkeiten moderner Medizin würden präventive Maßnahmen oft erst ermöglichen und die Prämisse müsse heißen: „Schadensbegrenzung vor Schadensbekämpfung“.

Integrativ und Individuell – Roboterisierung droht

Eine Revolution in der Medizin sei die Überwindung der Grenzen zwischen naturwissenschaftlicher und individueller Medizin, brachte Matthias Beck, Professor für Moraltheologie an der Universität Wien und Kaplan der Pfarre St. Josef zu Margareten, einen weiteren Aspekt in die Diskussion ein. „Das kann dazu führen, dass vor jeder medikamentösen Therapie eine Genanalyse durchgeführt wird, damit eine spezifisch zielgerichtete Therapie für den einzelnen Patienten eingeführt werden kann. Das könnte die Medizin zunächst verteuern, auf Dauer aber womöglich billiger machen.“

Hier führe das bessere Verständnis von Krankheiten auch zu einer größeren Verantwortung des Patienten, der durch Lebensstiländerungen an der Heilung von Krankheiten oder an ihrer Prävention mitwirken könne, so Beck.

Eine weitere Neuerung wird laut Beck sein, dass man riesige Datenmengen über die Patienten sammeln werde: „Womöglich werden Computer demnächst die Diagnose erstellen und gleich eine Therapie mit anbieten.“ Hier stelle sich die Frage, wer die Computer programmieren solle. Laut Beck spiele der Arzt „womöglich eine immer kleinere Rolle, weil der Computer seine Arbeit übernimmt, oder aber er muss umgekehrt breiter und ‚ganzheitlicher‘ ausgebildet werden, um die vom Computer errechnet Daten in ein Gesamtbild für den Patienten zusammenzusetzen“. Schließlich werde die Ergänzung oder Ersetzung des Menschen durch Roboter zu weiteren Umstrukturierung der Medizin und des Arbeitsmarktes führen, so die Prognose von Beck.

Autor

  • Markus Golla

    Studiengangsleiter "GuK" IMC FH Krems, Institutsleiter Institut "Pflegewissenschaft", Diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger, Pflegewissenschaft BScN (Umit/Wien), Pflegewissenschaft MScN (Umit/Hall)