AT: Der verNetzte Beckenboden

22. November 2021 | News Österreich | 0 Kommentare

Mitte Oktober tagte die Medizinische Kontinenzgesellschaft Österreich (MKÖ) bei bestem Wetter und in guter Stimmung auf der Linzer Gugl. Die Veranstaltung stand unter dem Motto der Vernetzung – im doppelten Sinn: zum einen wurde der Einsatz netzgestützter Therapien diskutiert, die in den letzten Jahren weltweit unter Beschuss gerieten. Zum anderen wurde die Bedeutung der interdisziplinären Vernetzung der unterschiedlichen Fachdisziplinen einmal mehr in den Fokus gerückt. Anlässlich des diesjährigen Kongresses gab es auch eine Neuerung an der Spitze der MKÖ – Präsidentin und Vizepräsident tauschten ihre Rollen. Der Urologe und bisherige Vizepräsident OA Dr. Michael Rutkowski übernahm den Vorsitz der Gesellschaft. Die Chirurgin OÄ Dr. Michaela Lechner wurde als seine Stellvertreterin bestätigt.

Die Jahrestagung der Medizinischen Kontinenzgesellschaft Österreich (MKÖ) ist seit nunmehr drei Jahrzehnten eine einzigartige interdisziplinäre Möglichkeit der Weiterbildung und des Erfahrungsaustausches all jener Fachgruppen, die sich mit Inkontinenz, Blasen- und Darmfunktionsstörungen und deren Auswirkungen auf Körper und Psyche beschäftigen. Die Kongresspräsidentin Katharina Meller, Physiotherapeutin am Krankenhaus Göttlicher Heiland in Wien, freute sich, dass die wissenschaftliche Tagung nach einem Jahr Pause wieder als Präsenzveranstaltung im bewährten Rahmen auf der Linzer Gugl stattfinden konnte: „Wir haben in den Monaten der Pandemie gelernt, welch‘ zahlreiche und neue Möglichkeiten Online-Veranstaltungen eröffnen, mussten aber gleichzeitig feststellen, wieviel an dem so geschätzten persönlichen Austausch verlorengeht.“

Die MKÖ ist ein Netzwerk gelebter Interdisziplinarität. Dieser Besonderheit wurde im Programm besonders Rechnung getragen. So wurde die Wichtigkeit der fächerübergreifenden Vernetzung von Medizin, Physiotherapie, Pflege und Geburtshilfe anhand unterschiedlicher Fragestellungen demonstriert. Eines der Hauptthemen der Fortbildungsveranstaltung war die kontrovers diskutierte Verwendung von synthetischen Netzimplantaten. Aber auch mit anderen sensiblen Themen, wie etwa dem Einsatz von EpiNo zur Prophylaxe und Nachsorge eines Dammrisses, der sexuellen Dysfunktionen oder Operationen im Genitalbereich aus medizinischen, aber auch ästhetischen und rituellen Gründen setzte man sich auseinander.

Meshes: vom Hype zum Bann

Die Tagung startete mit dem hochexplosiven Thema des „Mesh Bans“, das von unterschiedlicher fachlicher Seite beleuchtet wurde. Der Diskussion liegt zugrunde, dass rund um die Jahrtausendwende etwa drei von zehn Patienten aufgrund von Rezidiven nachoperiert werden mussten, deren Deszensus oder Prolaps der Beckenbodenorgane mithilfe von Eigengewebe chirurgisch behandelt wurden. Der Einsatz von transvaginalen synthetischen Meshes konnte diese hohe Rückfallquote deutlich senken. Die Netze schienen somit eine vielversprechende Lösung zu sein und wurden als Goldstandard weltweit breit eingesetzt. Im Laufe der Zeit mehrten sich allerdings Meldungen von Komplikationen wie Netzerosionen, Infektionen, Blutungen, Schmerzen während des Geschlechtsverkehrs, Organperforationen und urologischen Problemen. Dies veranlasste die amerikanische Zulassungsbehörde FDA im Jahr 2011 schließlich, eine Warnung auszusprechen. Sammelklagen gegen Hersteller und Demonstrationen betroffener Frauen folgten. 2015 reagierte auch die EU, was zur Folge hatte, dass Meshes auch in Europa in Verruf gerieten und einige Länder ihre Verwendung erheblich einschränkten. 2019 untersagte die FDA schlussendlich den Vertrieb urogenitaler Netze.

Im Rahmen der MKÖ-Tagung versuchten Experten Klarheit in die Diskussion zu bringen und betonten, dass die Diskussion rund um die Netze nicht zugleich auch die suburethralen Bänder betreffen darf, die heute die am häufigsten verwendeten chirurgischen Verfahren mit gesicherten Erfolgsquoten und gutem Sicherheitsprofil bei Belastungsinkontinenz sind und uneingeschränkt empfohlen werden können. Betont wurde auch, dass Netz nicht gleich Netz ist. Es stehen verschiedenste Materialien und Formen zur Verfügung, mehrere Techniken für verschiedene Situationen. Die Komplikationsraten seien zudem abhängig von der Meshmenge, die implantiert wird – je weniger Fremdmaterial, desto besser –, aber auch von der Erfahrung des Operateurs. Beckenboden-Probleme gehören in Expertenhände, um Therapien maßgeschneidert anbieten zu können, so der Konsens. Wichtig sei, Patienten angemessen zu diagnostizieren sowie über Vorteile und Risiken aufzuklären und personalisierte Strategien zu entwickeln, also je nach Patient und Defekt über die Methode zu entscheiden. Auch die derzeitige Leitlinie für die DACH-Region sehen einen Einsatz von Netzen vor.

Beschneidung: genitale Verschönerung oder Verstümmelung?

Ein weiteres hochsensibles Thema der Tagung war das Spannungsfeld der genitalen Schönheitschirurgie. Ein Thema das von zunehmender Nachfrage aus ästhetischen Gründen über medizinische Indikation einer Zirkumzision bis hin zur weiblichen Genitalverstümmelung reicht. Letzteres war auch Thema des Festvortrages von MMag. Corinna Geißler, Leiterin Advocacy & Kinderrechte, UNICEF Österreich, die betonte, dass die Beschneidung der Frau (FGM) in jedem Fall eine Menschenrechtsverletzung und eine Diskriminierung darstellt. Entgegen der Vermutung lässt sich FGM nicht auf eine religiöse Gruppe festlegen. Vielmehr spielen soziale und kulturelle Gründe eine Rolle. Auch geht es um Machtbeziehungen und darum, weibliche Lust zu kontrollieren, und sozio-ökonomische Motive spielen eine Rolle – Familien wollen sicherstellen, dass ihre Töchter verheiratet werden. Der Schlüssel FGM erfolgreich zu bekämpfen, ist vor allem das Empowerment und die Bildung der Mädchen sowie das Schaffen von wirtschaftlicher Sicherheit. Laut der Expertin hat sich die Situation in den letzten 30 Jahren weltweit verbessert. Dennoch braucht es mehr Engagement, um die UN-Ziele zu erreichen: 2030 jegliche Form von schädlichen Praktiken, unter anderem Genitalverstümmelung, zu eliminieren.

Beckenboden im Gespräch

Der letzte Schwerpunkt der Tagung widmete sich dem Beckenboden – ein kurzweiliger historischer Rückblick zur Einführung der vaginalen Tastuntersuchung nach dem PERFECT-Schema in Österreich veranschaulichte den Kongressbesuchern, wie gute Zusammenarbeit von Medizin und Physiotherapie funktionieren kann. 2010 fand der erste Palpationskurs im Wiener Rudolfinerhaus statt, der als buntes Programm aus Vorträgen und Hands-on-Training in Kleingruppen konzipiert ist und die Teilnehmer innerhalb eines Tages in dieser Methode schult. Unter Phydelio.at findet man die Info, wann der nächste Kurs stattfindet, unter bit.ly/2YSEqpr das Fachbuch zum Nachlesen.

Als neues Format im Rahmen der MKÖ-Tagung wurden erstmals Round Table-Talks organisiert. Einerseits wurde die Pudendus-Neuralgie als äußerst komplexes Krankheitsbilddiskutiert, das diagnostisch einer interdisziplinären Betrachtung bedarf, da man vor allem über das Ausschlussprinzip und die Bildgebung in die richtige Richtung kommt. Andererseits bildete der zweite Round Table-Talk einen hochspannenden Abschluss der Tagung. Unter anderem ging es um Selbstakzeptanz und Scham bei Inkontinenz, aber auch um „Hilfsmittel“ wie Pessare bei Senkungsbeschwerden sowie um Liebeskugeln, Vibratoren und Dildos, die dann zum Einsatz kommen, wenn es gilt, die Aktivität des Beckenbodens zu fördern und die Wahrnehmung dieser Muskelplatte zu verbessern.

Das Resümee von Katharina Meller: „Als Tagungspräsidentin fallen mir zur gelungenen Veranstaltung und dem interdisziplinären Netzwerk die Worte von Henry Ford ein: Zusammenkommen ist ein Anfang, Zusammenbleiben ein Fortschritt, Zusammenarbeiten ein echter Erfolg. Die MKÖ konnte in ihren drei Jahrzehnten eindrucksvoll zeigen, was mit guter Zusammenarbeit erreicht werden kann und hat Vorbildcharakter für viele andere Disziplinen der Medizin!“

MKÖ: Engagement seit über 30 Jahren

Blasen- und Darmschwäche sind ein häufiges Problem, welches zumindest 10 Prozent der österreichischen Bevölkerung betrifft. Begonnen hat die systematische Inkontinenzhilfe 1990 in Linz, als sich ein kleiner Kreis von Ärztinnen und Ärzten, wie auch Angehörigen des diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegeberufs und der Physiotherapie zusammenschloss. Seit Bestehen ist es das Ziel der Medizinischen Kontinenzgesellschaft Österreich (MKÖ), Maßnahmen zur Prävention, Diagnostik und Behandlung der Inkontinenz sowie der einschlägigen Forschung, Lehre und Praxis zu fördern. Dazu gehört die spezielle Schulung des medizinischen Fachpersonals ebenso wie die gezielte Öffentlichkeitsarbeit zur Information und Beratung von Betroffenen und ihren Angehörigen. Heute ist die MKÖ maßgeblich an der Vernetzung von Fachärzten, Ambulanzen, Allgemeinmedizinern, Physiotherapeuten, Pflegepersonen und der Öffentlichkeit beteiligt. Einen wesentlichen Beitrag dazu liefern auch die seit 1991 jährlich abgehaltenen Jahrestagungen sowie die Kontinenz-Stammtische in Oberösterreich, Wien und Salzburg sowie die Kontinenzmeetings in Kärnten.

Autor:in

  • Markus Golla

    Studiengangsleiter "GuK" IMC FH Krems, Institutsleiter Institut "Pflegewissenschaft", Diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger, Pflegewissenschaft BScN (Umit/Wien), Pflegewissenschaft MScN (Umit/Hall)