AT: Alltagsnahes Leben in der Gemeinschaft

20. August 2017 | Demenz, News Österreich | 0 Kommentare

Die meisten Menschen mit einer demenziellen Beeinträchtigung leben in Österreich im eigenen Zuhause, wo sie von ihren An- und Zugehörigen unterstützt werden. Da sich fortschreitende kognitive Veränderungen jedoch in den meisten Fällen weder durch medizinische noch durch psychosoziale Interventionen aufhalten lassen, nimmt der Bedarf an professioneller Unterstützung immer weiter zu.  Spätestens dann, wenn das Leben zu Hause immer schwerer fällt und die Nahestehenden mit ihren Unterstützungsmöglichkeiten an ihre Grenzen stoßen, drängt sich die Frage auf, welche Alternativen zum Verbleib in der eigenen Wohnung bestehen. Oft scheint dann der Umzug in ein Pflegewohnwohnheim unausweichlich, bietet er doch Sicherheit und Unterstützung bis zum Lebensende. Doch muss es ein Pflegewohnheim sein, oder gibt es auch andere, alternative Wohnformen, die den Ansprüchen von Menschen mit Demenz gerecht werden können?

Um dieser Frage nachzugehen haben wir der Wohngemeinschaft (WG) für Menschen mit Demenz der Caritas Socialis (CS) in der Jane-Tilden-Gasse 3, 1210 Wien, für das Magazin Pflege Professionell einen Besuch abgestattet. Begleitet hat uns dabei Birgit Meinhard-Schiebel, Abgeordnete des Wiener Landtages, Mitglied des Wiener Gemeinderates, und Präsidentin der Interessensgemeinschaft pflegender Angehöriger (IG-Pflege). Empfangen wurden wir vor Ort von der Leiterin der Wohngemeinschaft, der diplomierten Gesundheits- und Krankenpflegeperson (DGKP) Marion Landa-Meidlinger, sowie dem Bereichsleiter für Tageszentren und Wohngemeinschaften der CS, Human Vahdani, welche uns durch die Einrichtung führten und mit uns über das Leben in der Wohngemeinschaft sprachen.

Der berufliche Ursprung der beiden Leitungspersonen liegt nicht im Bereich der Altenpflege. Frau Landa-Meidlinger arbeitete zuvor mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, und Herr Vahdani mit Menschen mit Multipler Sklerose (MS). Die jeweils unterschiedlichen Zugänge seien eine Bereicherung für ihre derzeitige gemeinsame Arbeit mit Menschen mit Demenz in der Wohngemeinschaft. Für Landa-Meidlinger ist es der Inklusionsanspruch aus der Behindertenbewegung, und für Vahdani das Selbstbestimmungsbestreben von Betroffenen aus dem MS-Bereich, die sich laut ihm gut ergänzen und in der Einrichtung weiterführen ließen.

Nischenprodukt

Die Wohngemeinschaft sei vorrangig für Menschen mit geringem Unterstützungsbedarf gedacht, so Landa-Meidlinger, also jene Menschen, welche es zuhause gerade noch schaffen würden, für den Umzug in ein Pflegewohnheim aber noch in zu guter Verfassung seien. Als hinderlich stelle sich dabei heraus, dass die Personen immer noch zu spät kämen, indem diese den Umzug in die WG zu lange hinauszögern würden. Idealerweise würde der Einzug in die Einrichtung früher erfolgen, dann würden sich die neu hinzukommenden Bewohner/innen bei der Eingewöhnung leichter tun. Für Meinhard-Schiebel erklärt sich das lange Abwarten bzw. der Entschluss gegen einen Umzug in eine WG durch die Vorstellungen, welche die meisten Menschen von einer WG hätten. Diese würde als „schräg“ eingestuft werden, und es gäbe keine konkrete Beziehung und Vorstellung dafür. Mehrheitlich denken wir wohl bei einer WG an studentische Lebensformen und weniger an eine Lebens- und Wohnform für ältere Menschen.

WG´s sind wohl deshalb noch immer ein „Nischenprodukt“. Zu Unrecht, wenn man die vielen an Demenz erkrankten Menschen bedenkt, welche noch keinen Bedarf an einer stationären Aufnahme haben, die jedoch alleine zuhause leben, sich unsicher fühlen, möglicherweise einsam sind, und einer Gemeinschaft zugehörig sein möchten.

Auch für die häufig stark belasteten Nahestehenden könne der Umzug der Betroffenen in eine WG entlastend wirken, unter anderem auch, da sich oft das gemeinsame Leben und die Alltagsbewältigung als immer schwieriger erweisen würden. Die Angehörigen könnten die WG jederzeit besuchen und durch die Abgabe der Hauptlast der Betreuung werde es für sie möglich, sich wieder mehr auf die Beziehung abseits der Pflegetätigkeiten einzulassen, meint Vahdani. Gerade für die Nahestehenden sei eine WG daher eine große Entlastung, da die notwendige Sicherheit und Unterstützung durch professionelles Betreuungs- und Pflegepersonal geleistet werde.

Da jedoch die Pflege zu Hause als Verpflichtung begriffen werde, die nicht abgegeben werden dürfe, käme bei den Nahestehenden in vielen Fällen schlechtes Gewissen auf, berichtet Landa-Meidlinger. Dieses Empfinden ernst zu nehmen und die Angehörigen beim Prozess des Umzugs zu begleiten, sei daher fixer Bestandteil der Arbeit in der WG.

Die Türen stehen immer offen

In der WG können sich alle Bewohner/innen frei bewegen und die Türen stehen immer offen. Möglich ist dies, so Vahdani, da sich die Bewohner/innen in der WG wohlfühlen und deshalb nicht zu den oft zitierten Weglauf-Tendenzen neigen würden, welcher in diesem Zusammenhang den positiveren Begriff Hinlauf-Tendenz bevorzugt. Ein übersteigerter Bewegungsstrang käme laut Vahdani gehäuft bei Personen auf, welche sich in ihrer Umgebung unwohl fühlten. Wohlbefinden könnten die Bewohner und Bewohnerinnen im Rahmen einer WG erfahren, da sie dort keine Abweisung verspüren würden, wie dies häufig in gemischten Wohnformen der Fall sei, wo Menschen mit und ohne demenzielle Veränderungen zusammenleben. In diesen käme es häufig zu Konflikten und Unverständnis. Wenn Hin- beziehungsweise Weglauf- Tendenzen bei Bewohnerinnen und Bewohnern trotzdem ersichtlich würden, erhielten diese ein Signalarmband, welches beim Verlassen der Wohnungstür einen Alarm auslösen und nicht das Gefühl, eingesperrt zu sein, vermitteln würde. Wenn sich Wohlbefinden im Laufe der Eingewöhnungsphase bei den Personen nicht einstellen würde und ihr Verhalten für die Umgebung zu herausfordernd sei, kann es notwendig werden, eine andere Lösung als die WG für die Betroffenen zu finden.

Aufnahme in die WG

Die meisten Bewohner/innen würden über eine Empfehlung im Zuge einer Beratung durch die Pflege- und Beratungszentren des Fonds Soziales Wien (FSW) oder der organisationseigenen Beratungsservices der CS zu ihnen kommen. Aber auch über den Internetauftritt der Wohngemeinschaft würden sich immer wieder Interessentinnen und Interessenten einfinden. Voraussetzung für eine Aufnahme in der Wohngemeinschaft ist eine fachärztlich diagnostizierte demenzielle Beeinträchtigung, und zumindest die Zuerkennung eines Pflegegeldes der Stufe 2, als Grundbedingungen für die Zuerkennung einer Förderleistung durch den FSW.

Für die Kontaktaufnahme steht die Leiterin, Frau Landa-Meidlinger zur Verfügung, die sich für alle Anfragen viel Zeit nimmt. Gerade die anfängliche Abklärung sei laut ihr wichtig, um sicherzustellen, ob es für beide Seiten passe. Die Betroffenen und Angehörigen bei der administrativen Abwicklung zu unterstützen ist ein weiteres Service, da diesen die Förderrichtlinien in vielen Fällen nicht geläufig sind. Anfangs können auch die Angehörigen alleine vorbeikommen, um sich einen ersten Eindruck von der Einrichtung zu machen. Entscheidend ist vor allem das Passungsverhältnis zwischen den Interessentinnen und Interessenten und der Einrichtung. Bereits beim ersten Besuch wird genau darauf geachtet, den Kontakt zu den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern der Wohngruppe herzustellen. Zudem sind laufende Angehörigengespräche für eine erfolgreiche Eingewöhnung ausschlaggebend. Darüber hinaus ist es sogar möglich, dass Angehörige zur Vermittlung von Sicherheit zu Anfang mit den Betroffenen in der WG nächtigen. Auch ein Probemonat ist möglich.

Hilfreich könne es außerdem sein, wenn Betroffenen erst nur eine Nacht bleiben, so Landa-Meidlinger. Sie berichtet von einer Bewohnerin, die dachte, sie sei in einem Hotel und sich auf den Versuch, eine Nacht zu bleiben, eingelassen habe. Jene Bewohnerin entschied sich, in der WG zu bleiben, und sagt noch immer: „Ich lebe im Hotel.“.

Zwischenstation

Die WG kann auch eine Zwischenstation zwischen Zuhause und Pflegeheim sein, zum Beispiel, wenn sich der körperliche Zustand einer Bewohnerin/ eines Bewohners stark verschlechtert und die pflegerischen und medizinischen Ansprüche für die Einrichtung zu hoch werden. Dann würden sie die Betroffenen und Angehörigen bei diesem Prozess beratend zur Seite stehen und weitervermitteln, damit diese rechtzeitig wo anders anknüpfen könnten, erklärt Lander-Meidlinger. Meist sei auf Wunsch eine CS- interne Lösung für einen stationären Wohnbereich möglich, wofür drei Häuser (3., 9. und 23. Bezirk) in Wien zur Verfügung stehen. Vahdani fügt hier hinzu, dass seitens der WG immer der Versuch bestehe, den Entwicklungsprozess bei den Bewohnerinnen und Bewohner soweit als möglich zu begleiten, auch bis zum Sterben, wobei die ideale Lösung individuell abzuschätzen sei – ganz nach dem Motto: „Manchmal ist es hier besser als zuhause und manchmal ist es im Heim besser als hier.

Individueller Zugang

Als Erfolgsrezept für das Wohlbefinden der Bewohnerinnen und Bewohner nennt Landa-Meidlinger den individuellen Zugang. Es wird auf die jeweiligen Bedürfnisse der Bewohner/innen eingegangen und Rücksicht genommen, wobei ein klarer und offener Gesprächsstil gepflegt wird. Die WG baut auf ein Bezugspflegesystem auf. So ist allen Bewohnerinnen und Bewohnern eine konstante Mitarbeiterin/ ein konstanter Mitarbeiter (MA) zugeteilt, die auch als Ansprechperson für die Angehörigen wirken. Dieses System ermöglicht unter anderem regelmäßige Ausflüge wie etwa zum Stephansdom.
Von Montag bis Freitag sind untertags immer zwei diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegeperson (DGKP) in der WG anwesend. Zudem sind untertags immer eine Pflegeassistenz, eine Pflegehelferin, eine Reinigungskraft und ein Zivildiener, sowie eine ehrenamtliche Arbeitskraft im Dienst.  Darüber hinaus und an den Wochenenden stehe eine DGKP mittels Rufbereitschaft auf Abruf bereit. Diese wären hauptsächlich Mitarbeiter/innen des mobilen Hospizdienstes der CS. Somit sind untertags immer 6 Mitarbeiter/innen für die maximal 16 Bewohner/innen zuständig. Für die Nacht besteht ein Nachtdienst für beide Wohnbereiche.

Für die ärztliche Versorgung steht eine Hausärztin einmal pro Woche für die Bewohner/innen bereit, die mit allen Kassen abrechnen kann. Zudem kommt alle 4-6 Wochen und bei Bedarf eine Neurologin ins Haus. Die Medikamente werden für alle Bewohner/innen von der Allerheiligen Apotheke in Wochendispensen eingeschachtelt und geliefert.

Zusammen leben

Die WG ist in zwei Wohnbereiche und -gruppen unterteilt, wobei in jedem Bereich 8 Personen untergebracht sind. Jeder Gruppe steht ein zentraler Aufenthaltsbereich zur Verfügung, wobei die kurzen Gänge sich als günstig für die Bewohner/innen erweisen. Allen Bewohner/innen sind in Einzelzimmern (~ 15 m2) untergebracht, welches sie grundsätzlich selbstständig einrichten können. Bei Bedarf können allerdings auch von der CS Mobiliar und Einrichtungsgegenstände bereitgestellt werden. Jeder Wohnbereich verfügt über zwei Badezimmer und Toiletten, welche sich außerhalb der Zimmer befinden. Diese Wohnfläche entspräche vom Konzept her ungefähr dessen, was Personen in Wien durchschnittlich zur Verfügung stehe, meint Lander-Meidlinger.

Eine Bewohnerin, die uns stolz ihr Zimmer zeigt, sagt: „Da kann man sich schon wohl fühlen.“ und verweist darauf, dass sie es selbst eingerichtet habe. „Ich war Karl May Fan.“, erklärt sie, und zeigt dabei auf ihr Bücherregal, in welchen eine große Sammlung von Büchern ihres Lieblingsautors zu finden sind. „Ordnung ist das halbe Leben!“, fügt sie noch hinzu, bevor wir ihren privaten Raum wieder verlassen.

Hauptziel der Einrichtung ist es, dass die Bewohner/innen „zusammen leben“, wobei der Rückzug ins eigene Zimmer immer möglich sein soll. Sogar zwei Gärten stehen den Bewohner/innen zur Verfügung, und die gesamte WG ist barrierefrei zugänglich.

Tagesablauf

Beim Tagesablauf wird versucht, auf den individuellen Rhythmus der Bewohner/innen einzugehen, wobei die jeweiligen Gewohnheiten aufgenommen und abgeklärt werden und sich Unterstützung immer an den Bedürfnissen orientieren.  So herrscht keine Zwangsbeschäftigung – vielmehr geht es um die Aufrechterhaltung der Kontinuität von Alltagsaktivitäten. Als Beispiel wird hier angeführt, dass eine Angehörige über ihre Mutter gesagt habe, dass diese immer gerne Hausarbeit gemacht habe, weshalb man ihr Hausarbeit anbieten solle. Als ihr die MA dieses Angebot näherbringen wollte, habe diese gesagt: „Das habe ich mein ganzes Leben lange gemacht. Das mache ich jetzt nicht mehr.“ Dann werde dieses Bedürfnis berücksichtigt und keine Hausarbeit aufgedrängt, sondern eine Teilnahme an anderen Aktivitäten ermöglicht. Da der Alltag genügend Aufgaben bereitstellt, erübrigt sich auch die Frage, welche Beschäftigungen angeboten werden sollen.

Einbindung aller Bewohnerinnen und Bewohner in den Alltag ist auf alle Fälle erwünscht, was sich z. B. beim Einkaufen, Essenzubereiten, Geschirrspülen, Aufräumen, Haushaltführen und bei der Gartenarbeit gut ermöglichen lässt. Ganz nach dem Konzept: „Aktiv gemeinsam gestalten – aktiv Leben.“. Andere Aktivitäten wie der Besuch beim Heurigen, des Kunsthistorischen Museums, etc. wären laut Lander-Meidlinger eher Highlights, welche flexibel und spontan gehandhabt werden würden. Gerne wird zum Beispiel Eis gegessen, oder ein Tageszentrum der CS besucht. Diese Orte werden mit den öffentlichen Verkehrsmitteln anstatt von den beschrifteten und für alle Außenstehenden ersichtlichen Fahrtendienst erreicht, da den Bewohnerinnen und Bewohnern das „absolut Normale“ wichtig ist. Im Zuge dessen ist auch die WG in einem „normalen“ Mietshaus untergebracht, und auch die Mitarbeiter tragen keine Dienstkleidung.

Normal“ am Zusammenleben im Mietshaus sei aber laut Vahdani auch, dass man wie in den meisten großen Wohnkomplexen mit den anderen Nachbarinnen und Nachbarn wenig Kontakt habe. Jedoch sei man für das ganze Haus die „Packerlstation“, da Rund um die Uhr jemand anwesend sei und die Zustellungsdienste diesen Vorteil nützen würden, was auch die übrigen Mieter/innen gutheißen würden. Insgesamt führe man hier, so Vahdani, „ein normales Wiener Leben“ und stelle sich nicht zur Schau, verstecke sich aber auch nicht. Es gäbe auch keine Probleme mit den restlichen Mieterinnen und Mietern, was auch daran liege, dass die WG gleichzeitig mit den restlichen Mieterinnen und Mietern direkt nach der Errichtung des Miethauses gegründet wurde, und die Größe der WG mit 16 Bewohner/innen noch gut überschaubar sei.

Kontakt: 
Marion Landa-Meidlinger
CS Wohngemeinschaft Jane-Tilden-Gasse 3,
1210 Wien
01/292 18 87 10
marion.landa-meidlinger@cs.or.at

Autor

  • Raphael Schönborn

    Sozialwirtschaft und Soz. Arbeit, BA Erziehungs- und Bildungswissenschaften, DPGKP, Sonderausbildung für Lehrtätigkeit § 65b GuKG; Lehrgangsleiter Dementia Care (Kardinal König Haus, Wien), Projektleitung ABDem (BMASK, VAEB), langjährige Praxis in der Begleitung und Beratung von Menschen mit Demenz und deren Nahestehenden (raphael-schoenborn.at), Fort- und Weiterbildungstätigkeiten, Leiter der Gesprächsgruppe „Meine Frau hat Demenz.“ (Caritas, Wien)