AT: 1,9 Millionen leiden an Rückenschmerzen: Volksleiden Nummer eins im Mittelpunkt der Österreichischen Schmerzwochen – Schmerzversorgung auch während der COVID-19-Pandemie sichern

24. Januar 2021 | Covid19, News Österreich | 0 Kommentare

Bereits zum 20. Mal informiert die Österreichische Schmerzgesellschaft (ÖSG) im Rahmen ihrer Schmerzwochen über die Möglichkeiten der modernen Schmerzmedizin und nimmt sich der Schmerzversorgung an. In diesem Jahr liegt ein Schwerpunkt auf dem häufigsten Gesundheitsproblem in Österreich – dem Rückenschmerz. In Zeiten der Corona-Pandemie ist es für Schmerzpatientinnen und -patienten oft nicht einfach, Hilfe zu finden. Es seien Anstrengungen erforderlich, um Unterversorgung zu vermeiden.

Wien, 20. Jänner 2021 – Seit nunmehr 20 Jahren informiert die Österreichische Schmerzgesellschaft (ÖSG) mit einer jährlichen Aufklärungsaktion über aktuelle Erkenntnisse der schmerzmedizinischen Forschung und bestehende Therapieangebote. Gleichzeitig zeigt die ÖSG auf, wo dringend nötige Angebote für Schmerzpatientinnen und Schmerzpatienten noch fehlen oder noch nicht ideal sind.

Wie jedes Jahr setzt die Informationsinitiative einen thematischen Schwerpunkt im Einklang mit der internationalen Kampagne der International Association for the Study of Pain (IASP) und der Europäischen Schmerzföderation (EFIC). 2021 steht das Thema Rückenschmerz im Mittelpunkt. „Unspezifische Kreuzschmerzen sind leider ein sehr verbreitetes Gesundheitsproblem. Die Wahrscheinlichkeit, einmal im Leben davon betroffen zu sein, liegt in Industriestaaten bei bis zu 85 Prozent. Bei etwa zehn bis fünfzehn Prozent ist ein chronischer Verlauf festzustellen“, berichtet ÖSG-Präsident Prim. Priv.-Doz. Dr. Nenad Mitrovic (Vöcklabruck).

Ein Viertel der Bevölkerung ab 15 hat Kreuzweh

Österreich ist ein Kreuzwehland. Das belegt eine repräsentative Gesundheitsbefragung der Statistik Austria. Chronische Kreuzschmerzen und andere chronische Rückenleiden nehmen den traurigen Spitzenplatz unter den gesundheitlichen Problemen ein. Von rund 7.500 Befragten ab 15 Jahren gaben 26 Prozent an, in den letzten zwölf Monaten darunter gelitten zu haben. Umgerechnet auf die österreichische Gesamtbevölkerung bedeutet das: 1,9 Millionen Personen waren betroffen. Je älter die Befragten, desto häufiger machte der Rücken Probleme. Bei den Unter-60-Jährigen klagte jeder Fünfte (20,8 Prozent) über Schmerzen, bei der Gruppe 60+ war es mehr als jeder Dritte (38,4 Prozent). „Das zeigt uns: Jugend schützt nicht vor Schmerzen. In jeder Altersgruppe lag das Schmerzgeschehen im zweistelligen Prozentbereich, auch bei den Unter-30-Jährigen. Besonders hier sollte genauer hingeschaut werden, um eine frühzeitige Chronifizierung zu verhindern“, betont Prim. Mitrovic. „Mehr Präventionsanstrengungen und innovative Versorgungskonzepte sind das Gebot der Stunde, um chronische Rückenschmerzen möglichst zu verhindern oder in einem sehr frühen Stadium optimal zu behandeln.“

880 Millionen Euro pro Jahr an Behandlungskosten

Rückenbeschwerden belasten den Einzelnen wie das Gesundheitssystem in hohem Maß. Alle internationalen Studien stimmen darin überein, dass der volkswirtschaftliche Schaden die reinen Behandlungskosten um ein Vielfaches übersteigt. Eine aktuelle deutsche Studie beziffert die durchschnittlichen Gesamtkosten pro Patient mit chronischen Rückenschmerzen mit 31.148 Euro pro Jahr: 8.862 Euro machten die direkten Krankheitskosten wie ärztliche Hilfe, Medikamente oder Spitalsaufenthalte aus. Die indirekten Kosten aufgrund von Krankenständen oder Arbeitslosigkeit betrugen mit 22.287 Euro nahezu das Dreifache. „Auch wenn diese Zahlen nicht 1:1 auf Österreich übertragbar sind, sollten wir uns doch immer die Frage stellen, ob die Kosten in der Höhe eines mittleren österreichischen Jahreseinkommens vertretbar und die Mittel gut eingesetzt sind. Wären sie durch geeignete Maßnahmen nicht auch zum Teil vermeidbar?“, so ÖSG-Präsident Prim. Mitrovic.

Leitlinie Unspezifischer Rückenschmerz: Ein erster Erfolg für Betroffene

Die ÖSG verzeichnet bereits Erfolge im Bemühen um eine bessere Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Rückenproblemen. Die 2018 unter der Ägide des Gesundheitsministeriums entstandene interdisziplinäre Leitlinie zur Behandlung von unspezifischem Rückenschmerz bezeichnet ÖSG-Generalsekretär Prim. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar, MSc (Klagenfurt) als „ganz großen Wurf“.

In der Tat sind unspezifische Kreuzschmerzen eine echte Herausforderung in der Diagnose und Behandlung: Die muskuloskelettalen Beschwerden können ganz verschiedene Ursachen haben. Sie entstehen und verlaufen auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene und das in Kreisläufen, die sich wechselseitig verstärken. „Wo soll also eine Ärztin oder ein Arzt zuerst hinschauen und wie den jeweils besten Ansatz finden, um einem schmerzgeplagten Menschen schnell und nachhaltig Erleichterung zu verschaffen? Die Antwort darauf ist alles andere als trivial und nicht umsonst entsteht bei Kreuzschmerzpatienten manchmal der Eindruck, sie werden im Kreis herumgeschickt und nichts hilft“, sagt ÖSG-Generalsekretär Prof. Likar.

Überflüssige Röntgenaufnahmen oder Operationen vermeiden

Das „Update der evidenz- und konsensbasierten Österreichischen Leitlinie für das Management akuter, subakuter, chronischer und rezidivierender. unspezifischer Kreuzschmerzen“ beschreibt ganz klar den optimalen Behandlungspfad und welche Maßnahmen zusätzlich sinnvoll sind. Die Basis dafür sind wissenschaftliche Evidenz und Expertenempfehlungen. „Wenn die Leitlinie konsequent eingehalten wird, sollten Kreuzwehpatienten künftig rascher wirksame Hilfe erfahren und überflüssige Röntgenaufnahmen (CT, MRT) oder Wirbelsäulenoperationen der Vergangenheit angehören“, ist Prof. Likar überzeugt.

Die Leitlinie gibt auf mehr als 100 Seiten unter anderem darüber Auskunft, welche Präventionsmaßnahmen sinnvoll sind, wie eine Erstuntersuchung im Detail auszusehen hat und ab wann unbedingt auch körperliche und psychische Dauerbelastungen am Arbeitsplatz  oder im Privatbereich zum Thema gemacht werden müssen. Die Leitlinie bevorzugt klar nichtmedikamentöse Therapien, bietet aber auch eine sehr gute Hilfestellung, welche Medikamente in Frage kommen und welche nichts bringen. „Es ist sehr wichtig, hier eine praxistaugliche Richtschnur zu haben – und ein elaboriertes Argumentarium für die Patientenaufklärung“, betont Prof. Likar. Von Operationen rät die Leitlinie übrigens klar ab,  bei akuten, subakuten wie auch chronischen unspezifischen Kreuzschmerzen.

Meilenstein Qualitätsstandard „Unspezifischer Rückenschmerz“

Als weiteren großen Fortschritt sehen die ÖSG-Expertinnen und -Experten, dass 2020 der österreichische Qualitätsstandard „Unspezifischer Rückenschmerz“ von der Bundeszielsteuerung beschlossen und publiziert wurde, um die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit akuten und chronischen unspezifischen Rückenschmerzen zu verbessern. Damit wurde erstmals eine besonders wichtige Gruppe von chronischen Schmerzpatientinnen und -patienten in die bundesweite verbindliche Gesundheitsplanung aufgenommen – eine langjährige ÖSG-Forderung. Der Qualitätsstandard bietet 14 Empfehlungen für den Ablauf von Diagnose, Therapie und Nachbehandlung bei unspezifischen Rückenschmerzen.

Drei Versorgungsebenen – aber alle Fäden laufen an einer Stelle zusammen

„Die Empfehlungen basieren auf dem Konzept einer abgestuften Versorgung auf drei Ebenen. Es sorgt dafür, dass Rückenschmerzpatientinnen und -patienten jeweils zum richtigen Zeitpunkt die angemessene Behandlung in der richtigen Versorgungseinrichtung erhalten und die Therapie leitliniengerecht verläuft“, erklärt ÖSG-Vizepräsidentin OÄ Dr. Waltraud Stromer (Horn) und führt aus: „Für den gesamten Versorgungsprozess übernimmt die behandlungsführende Ärztin oder der behandlungsführende Arzt die Koordination. Das heißt, die Fäden laufen immer an einer Stelle zusammen.“

Die Basisversorgung (Versorgungsebene I) von Patientinnen und Patienten mit unspezifischen Rückenschmerzen erfolgt durch Ärztinnen und Ärzte für Allgemeinmedizin. Dauern die unspezifischen Rückenschmerzen trotz leitlinienkonformer Therapie länger als sechs Wochen an, wird auf die spezialisierte Versorgungsebene II überwiesen, zum Beispiel zu niedergelassenen Fachärztinnen und Fachärzten, nicht-ärztlichen Gesundheitsdienste-Anbietern oder Reha-Einrichtungen. Wenn nach mehr als zwölf Wochen immer noch alltagseinschränkende Schmerzen bestehen und der Therapieerfolg unzureichend ist, werden die Patientinnen und Patienten an die hochspezialisierte Versorgungsebene III überwiesen, z. B. in ein interdisziplinäres Schmerzzentrum, eine Reha-Einrichtung oder Tagesklinik. Die multimodale Schmerztherapie erfolgt nicht im akutstationären Bereich. „Die Langzeitbetreuung und die Nachsorge von Patientinnen und Patienten mit chronischen oder rezidivierenden unspezifischen Rückenschmerzen soll aber wieder durch die behandelnde Ärztin oder den behandelnden Arzt wohnortnah erfolgen“, so Dr. Stromer.

COVID-19-Pandemie: Versorgung chronischer Schmerzpatienten weiterhin gewährleisten

Aktuell besteht die Gefahr, dass Schmerzpatientinnen und -patienten aufgrund der COVID-19-Sicherheitsmaßnahmen weniger Gehör und Hilfe finden. „Eine Unterversorgung leistet aber die Schmerzchronifizierung Vorschub und erhöht die Behandlungsbedürftigkeit dauerhaft“, warnt ÖSG-Vizepräsidentin Dr. Stromer. Daher müsse sichergestellt sein, dass medikamentöse Schmerztherapien weiterlaufen und alle Maßnahmen einer multimodalen Schmerztherapie durchführbar bleiben.

Um die Schmerzkontrolle aufrecht zu erhalten und Entzugserscheinungen sowie andere potenzielle Nebenwirkungen zu vermeiden, dürfen laufende medikamentöse Schmerztherapien nicht unterbrochen werden. „Vor allem zu Beginn der COVID-19-Krise gab es Unsicherheiten hinsichtlich der Verwendung bestimmter Schmerzmedikamente. Es gibt jedoch keine validen Daten, die belegen, dass bestimmte Schmerzmittel das SARS-CoV-2-Infektionsrisiko erhöhen würden“, unterstreicht Dr. Stromer. So zeigen inzwischen Studien ganz  klar, dass weder RAAS-Hemmer noch Ibuprofen bezüglich einer Infektion bedenklich sind. Es besteht kein Grund, diese wichtigen Medikamente bei chronischen Schmerzpatienten abzusetzen.

Eine ähnliche Diskussion gab es auch über Opioid-Analgetika, da gewisse Opioide das Immunsystem stärker beeinflussen als andere. Doch auch hier ist keine negative Auswirkung im Zusammenhang mit COVID-19 belegt. „Nicht die Therapie, sondern unbehandelte Schmerzen schwächen das Immunsystem und stellen damit ein Risiko dar“, warnt Dr. Stromer. Nur in manchen Fällen ist es notwendig, bestimmte Behandlungen auf das Ende der Krise zu verschieben. Dringende schmerztherapeutische Maßnahmen müssen unbedingt auch während der Pandemie durchgeführt werden.

Schmerzbehandlungen auch unter Corona-Bedingungen möglich

„Eine interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie ist auch unter den geforderten COVID-19-Schutzmaßnahmen möglich. Hier ist Ideenreichtum und Flexibilität gefragt“, so Dr. Stromer. Beispielsweise kann ein Verlegen verschiedener Behandlungsmodule ins Freie eine Alternative sein. Eine Reihe schmerztherapeutischer Maßnahmen im Rahmen einer multimodalen Schmerztherapie können Patientinnen und Patienten auch zuhause absolvieren, etwa physische Übungen, Yoga, Ta Chi, Meditation oder Entspannungstechniken. Ärztinnen und Ärzte können Tipps und Online-Anweisungen geben. Wie eine deutsche Studie zeigte, waren Schmerzpatienten wie Behandler mit den Therapien trotz Corona-bedingter Einschränkungen sehr zufrieden.

Selbstbehandlung problematisch

 „Leider gehen chronische Schmerzpatientinnen und -patienten während der Corona-Krise aus Angst vor einer Infektion oder aufgrund von Ausgangsbeschränkungen seltener oder gar nicht zu ihrer Ärztin oder ihrem Arzt. Wichtig ist, sie zurück zur Behandlung zu bringen, da psychologische Faktoren wie soziale Isolation, Angstzustände und Depressionen zusätzlich das Risiko erhöhen, dass Schmerzen chronifizieren oder als stärker wahrgenommen werden“, sagt die ÖSG-Vizepräsidentin.

Während die Patienten den Arztpraxen und Ambulanzen fernblieben, stieg der Absatz von OTC-Analgetika. „Eine Selbstbehandlung mit frei erhältlichen Schmerzmitteln kann jedoch aufgrund möglicher Nebenwirkungen problematisch sein und ist kein adäquater Ersatz für eine ärztlich betreute Schmerzbehandlung!“, schließt ÖSG-Vize-Präsidentin Dr. Stromer.

Autor

  • Markus Golla

    Studiengangsleiter "GuK" IMC FH Krems, Institutsleiter Institut "Pflegewissenschaft", Diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger, Pflegewissenschaft BScN (Umit/Wien), Pflegewissenschaft MScN (Umit/Hall)