Arm, krank, alt – Fallbeispiel Hauskrankenpflege

11. Juni 2018 | Demenz, Politik | 0 Kommentare

An einem Wintertag wie jedem anderen steigt Melanie R. aus ihrem Wagen und trägt zwei Kartonschachteln mit Zusatznahrung zu einem ihrer Patienten, der gerade aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Auf dem Weg zu ihm kreuzt eine Frau ihren Weg, die sie anspricht, ob sie nicht eine Stelle für sie wüsste als Putzfrau. Ihre Aufenthaltsgenehmigung sei abgelaufen, zurück nach Bosnien könne sie nicht, weil ihre Herkunftsfamilie wie auch die Familie ihres verstorbenen Mannes sie verstoßen würde. Melanie R. hat eigentlich keine Zeit, weil sie zu ihrem Patienten eilen muss, da in der Hauskrankenpflege keine  Minute, die sie für vorgesehene Tätigkeiten mehr benötigt, bezahlt wird. Die Wegzeiten von einem Patienten zum anderen sind im Leistungskatalog mit 15 Minuten bemessen, was sich in der Regel nie ausgeht, da die Mehrzahl der Patienten nicht in einem Bezirk, sondern in ganz Wien verstreut sind.

Trotzdem schenkt sie der Frau Gehör, sie hat Mitleid mit ihr, kann ihr zwar nicht helfen, aber als die Frau von ihren zwei Kindern erzählt, die sie vielleicht verlieren würde, bricht ihr fast das Herz. Die Familie akzeptiert die Konversion vom Islam zum Christentum nämlich nicht und wenn sie nach Bosnien zurückgeht, hat sie dort keine Existenzmöglichkeit. Die Kinder würden ihr von der Familie des verstorbenen Mannes weggenommen, eine Berufsausübung als alleinstehende Frau im wirtschaftlich desolaten Land ist aussichtslos. Obwohl Melanie R. ihr nicht weiterhelfen kann, schenkt sie der Frau 20€ und setzt ihren Weg zu Hrn. N. fort.

Er wurde gerade aus dem Krankenhaus entlassen und die Krankenschwester bringt ihm außer Zusatznahrung neue Medikamente mit, um sie nach der neuen Arztanordnung vorzubereiten. Als langjährig versierte Krankenschwester weiß sie um die gesetzlichen Grundlagen und um die Notwendigkeit der Medikamentenkontrolle nach einer Krankenhausentlassung, da es häufig zu unkorrekten Einnahmen kommt. Auch diesmal fällt Fr. R. eine mitunter lebensgefährliche Medikamentenverwechslung auf. Da im Krankenhaus die vom Arzt diktierten Medikamente von Sekretariatskräften in Entlassungsbriefen verschriftlicht werden, kann es schon mal zu Schreibfehlern aufgrund von akustischen Missverständnissen kommen. In diesem Fall ging es um ein Medikament gegen Epilepsie, das mit einem Blutdruckmedikament verwechselt wurde. Eine direkte Rücksprache mit dem diensthabenden Arzt klärte das Missverständnis auf. Eine korrekte Arztanordnung ist jedoch unumgänglich, welche ins Büro des Unternehmens übermittelt werden muss, da sie auch vor Ort in der Klientenmappe aufliegen muss. Bisher fehlte das Geld, um alle MitarbeiterInnen mit elektronischen Geräten entsprechend auszustatten.

Fr. R. kümmert sich noch um das Wohlbefinden des Patienten, stellt sicher, dass er zu Hause gut zurecht kommt, bietet ihm noch Unterstützung bei den Alltagsbelangen an, kümmert sich um den Blutdruck und ob er die Zusatznahrung gut verträgt, dokumentiert alles nach bestem Wissen und Gewissen und setzt ihren Weg fort, denn es warten noch weitere Patienten auf sie.

Der nächste Patient wurde vor Weihnachten aufgrund eines Sturzes ins Krankenhaus eingeliefert. Seine Deutschkenntnisse sind nur sehr mangelhaft und die Kommunikation ist schwierig. Als die Krankenschwester mittels Schlüsselsafe die Wohnung betritt, findet sie den Patienten im unbeheizten Zimmer ohne Licht in ein Gebetsbuch vertieft vor. Erst nachdem die Krankenschwester Licht einschaltet, reagiert der Patient. Die Schwierigkeit bei der Kommunikation führt unter anderem dazu, dass der Patient die Medikamente gar nicht oder falsch einnimmt. Nach längerem Nachfragen versteht O.L., dass ihn die Krankenschwester um den Entlassungsbrief ersucht, den er aus dem Krankenhaus erhalten hat. Schließlich wird sie nach umständlichen Erklärungen des Patienten im Küchenkasten fündig. Dort findet sie neben der verschriebenen Antibiotika und Schmerzmittel, die O.L. aus dem Krankenhaus erhalten hat, auch die Lovenox-Injektionen, die der Patient erhalten sollte. Auf die Nachfrage, ob Hr. L. wisse, wie er diese verwenden solle, erfährt sie, dass er die Injektionen oral einnimmt. Es besteht akuter Handlungsbedarf auf mehreren Ebenen. In der Folge kümmert sie sich, dass der Patient seine Kontrolltermine wahrnimmt, dispensiert die Medikamente ordnungsgemäß, informiert über die korrekte Medikamenteneinnahme, nimmt mit der Sachwalterin Kontakt auf, damit der Patient eine intensivere Versorgung erhält, informiert über die notwendigsten Abläufe den kognitiv schwer eingeschränkten Patienten und setzt ihren Weg zu einer weiteren Patientin fort.

Auch diese Patientin wurde erst aus der Rehabilitation entlassen. Zwar gilt die alte Frau als mehr oder weniger selbständig, doch ist ihre psychische Verfassung insofern schwer beeinträchtigt, als sie kaum Pflegepersonen zu sich in die Wohnung lässt und die professionellen Unterstützungskräfte vollkommen ablehnt. Ein Verbandswechsel ihres Dekubitus steht an und die Medikamente wurden ebenfalls umgestellt. Frau N. akzeptiert die neue Verordnung nicht, die Ärzte wüssten ja nicht, was ihr fehle und die Pflegekräfte wollen sie alle nur vergiften. Der Verbandswechsel dauert zwei Stunden, da Fr. N. extremst schmerzempfindlich ist und kaum Hautkontakt bezüglich des Verbandswechsels zulässt. Für die versierte Krankenschwester kann das schon mal zur Herausforderung werden, denn Wundversorgung ohne Hautkontakt ist nahezu unmöglich. Sie hört die Dauerquerelen der vom Leben gebeutelten, alleinstehenden Frau geduldig an und kümmert sich um die Neubestellungen des Verbandsmaterials sowie um die Organisation des Schmerzpflasters, wofür aufgrund des Suchtmittelgesetzes sehr strenge Auflagen gelten.

Nach der Versorgung der Patienten steht noch die Administration im Büro an, wo jede Menge Arbeit auf Melanie R. wartet. Eine Kollegin ist nämlich erkrankt, zwei Neuaufnahmen aufgrund von Entlassungen aus dem Krankenhaus stehen noch an, die Dokumentationsmappen sowie die Medikamentenbestellungen müssen ebenfalls vorbereitet werden.

Die Arbeit auf dem Gebiet der Hauskrankenpflege ist stark ansteigend und der Druck, die Krankenhausaufenthaltsdauer zu verkürzen, macht sich in der extramuralen Pflege (Hauskrankenpflege) extrem bemerkbar. Die Menschen möchten am liebsten zu Hause bleiben. Auch wirtschaftlich ist die Pflege zu Hause am kostengünstigsten, zugleich werden Pflegekräfte in der Hauskrankenpflege verglichen mit dem Krankenhaussektor extrem unterbezahlt. Es gibt einen eklatanten Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften, wozu auch ausgezeichnete Deutschkenntnisse, vernetztes Denken und Handeln zählen und eine überragende Kommunikationsfähigkeit.

Melanie R. weiß, dass sie einer kleinen Minderheit angehört. Und sie weiß, dass die Arbeit in diesem Bereich so bald nicht ausgehen wird. Manchmal wünscht sie sich mehr Anerkennung und denkt, dass vielleicht jeder mal Pflege zu Hause braucht. Derzeit sieht es nicht so aus, als ob der gesellschaftliche Wert dieser so wichtigen Tätigkeit entsprechend anerkannt und auch bezahlt wird. Die Zahlen sehen derzeit so aus: Bis 2050 werden eine Million ÖsterreicherInnen pflegebedürftig sein, davon ca. 230.000 an Demenz erkrankt. Schon jetzt haben derzeit 20% des Pflege- und Betreuungspersonals Migrationshintergrund, bis 2020 fehlen laut Sozialministerium 17.000 Pflegekräfte. Weder die Arbeitsbedingungen (Nacht- und Wochenenddienste, sowie geteilte Dienste in der Hauskrankenpflege) noch die Bezahlung ist in den Pflegeberufen besonders attraktiv. Um den steigenden Bedarf zu decken, wird es nicht zuletzt aus volkswirtschaftlichen Gründen (Arbeitsplatzsicherung, Versorgungssicherheit) unumgänglich sein, in die Pflege zu investieren.

 

Autor:in

  • Alexandra Prinz

    Studium der Philosophie/Kultur- und Sozialanthropologie, Ausbildung für allgemeine Gesundheits- und Krankenpflege, Master-Studium Advanced Nursing Practice, Arbeitserfahrung im In- und Ausland (Direktorin/Schweiz); dzt. in Wien in der Qualitätssicherung in der extramuralen Pflege tätig; persönlicher Schwerpunkt: Gesundheitspolitik und Professionalisierung der extramuralen Pflege/transkulturelle Pflege