Aggression in den Griff bekommen

30. November 2019 | Christophs Pflege-Café | 0 Kommentare

Es gibt Fachbücher, die ständig aktuell bleiben werden. Das Buch „Aggression, Gewalt und Aggressionsmanagement“ wird sicher ein Klassiker bleiben bzw. werden. Den Herausgebern Johannes Nau, Gernot Walter und Nico Oud liegt es am Herzen, den Praktikerinnen und Praktikern in den unterschiedlichen Versorgungssettings des Gesundheitswesens Handwerkszeug an die Hand zu geben, mit dem sie im beruflichen Alltag bestehen können. Gernot Walter hat sich den Fragen von Christoph Müller gestellt.

Christoph Müller Ihr Buch „Aggression, Gewalt und Aggressionsmanagement“ erlebt die zweite Auflage. Es ist grundlegend überarbeitet worden. Ist dies ein Zeichen dafür, dass das Rüstzeug für die Bewältigung von Aggression und Gewalt mehr geworden ist?

Gernot WalterJa, das kann man so sagen. Zum einen werden mehr Erkenntnisse zusammengetragen, werden auch in der Breite mehr und es gibt zunehmend gute Ansätze für wirksame Interventionen. Vor allem solche, die als komplexe Interventionen bezeichnet werden. Bedauernswert ist allerdings, dass diese bei einer nicht unerheblichen Anzahl von Verantwortlichen und Entscheidungsträgern, gerade auch in der Politik nicht anzukommen scheinen.

Christoph Müller In den Medien wird zunehmend darüber berichtet, dass Polizisten und Rettungskräfte, Pflegende und andere helfende Berufe mehr Übergriffe erfahren. Stimmt dies oder haben wir gesellschaftlich eine höhere Sensibilität entwickelt?

Gernot Walter Sowohl als auch. Es scheint so, dass in vielen gesellschaftlichen Bereichen die Hemmschwelle sinkt, sich mittels aggressiver Verhaltensweisen durchzusetzen, Zugang zu Leistungen zu verschaffen aber auch der Frustration freieren Lauf zu lassen. Gleichzeitig nimmt der gesellschaftliche Druck, die Belastungen, der Stress zu, wie man es ja auch bei der Zunahme bestimmter psychischer Störungen sehen kann. Dazu kommt, dass die betroffenen Mitarbeiter in den Dienstleistungsberufen diese Belastungen deutlicher benennen und sich dagegen wehren.

Enttäuschend dabei ist allerdings, dass das mediale Interesse sehr begrenzt ist und selten über die sensationsheischende Berichterstattung hinausgeht. Echter aufdeckender Journalismus, der die komplexen Zusammenhänge erläutert und versucht den Dingen auf den Grund zu gehen, ist fast nirgendwo zu entdecken. Die halbstündige Schwerpunktradiosendung des ORF Anfang des Jahres allerdings hat die beim High Noon Kongress 2018 in Wien gemachten Interviews Jahres wirklich gut in Kontext gesetzt und die Facetten des Phänomens dargestellt.

Christoph Müller Beschäftigte, die Opfer von Aggressivität und Gewalt werden, erleben subjektiv Unglaubliches. Schaut man in Ihr Handbuch, so ist die inhaltliche Beschäftigung mit Übergriffen auf professionell Tätige sehr sachlich. Ist Ihnen dies als Herausgeber bewusst?

Gernot Walter Das Erleben von Aggression und Gewalt ist für alle Beteiligten, sowohl für diejenigen, die Gewalt ausüben, als auch diejenigen, die sie abbekommen aber diejenigen, die sie mitbekommen immer heftig und immer ein Trauma. Manche verarbeiten es besser, andere wiederum weniger gut. Es ist ein Grund, warum viele Beschäftigen im Gesundheits- und Sozialbereich auf dem Beruf aussteigen.

In unserem Buch kommen viele Fallbeispiele von betroffenen Menschen vor. Sie haben aber Recht, dass diese die Komplexität eines tatsächlichen Ereignisses nicht erreichen können. Dennoch erzählen die dramatischen Auswirkungen, die Folgen, die wir in unserem Buch zusammentragen, eine Geschichte, die betroffen macht, und die jeder, der diese wahrnehmen will, darin auch wahrnehmen und sich damit tiefer beschäftigen kann. Für diese tiefergehende Beschäftigung ist eine gewisse Versachlichung und Objektivierung wichtig. Sonst gerät man schnell in die Falle, entweder zu skandalisieren, oder überall nur noch Gewalt zu wittern, Gut-Böse-Schemata anzuwenden oder auch zu einseitige und zu einfache Erklärungsmodelle anzubieten

Christoph Müller Das Kapitel „Psychosoziale Interventionen“ zeigt auf, dass es bei der Konfrontation mit Aggression und Gewalt sowie deren Bewältigung um die Grundhaltung der Beschäftigten geht. Wie kann es in Einrichtungen gelingen, die Praktikerinnen und Praktiker dorthin zu begleiten, was Sie idealerweise beschreiben?

Gernot Walter In dem genannten Kapitel wird es sicherlich besonders deutlich, dass die Grundhaltung in der Begegnung mit Menschen der mitentscheidende Faktor ist. Johannes Nau, Nico Oud und mir war eine klare Grundhaltung sehr wichtig. Diese haben wir für das Buch explizit formuliert und den anderen Co-Autoren zur Verfügung gestellt. Und dazu gehört eben, dass alle Beteiligten Verantwortung tragen und der Führung dazu eine besondere Verantwortung zukommt. Letztere, und dazu zähle ich explizit die Politik und die Aufsichtsbehörden, sucht man im Alltag allerding zu oft vergeblich. Die Rahmenbedingungen, also Arbeits-, Behandlungs- und Betreuungsbedingungen werden zunehmend schlechter, und das obwohl wir zunehmend Erkenntnisse gewinnen, dass ergriffene Verantwortung genau an dieser Stelle den Unterschied macht und zu einem Gegensteuern führt.

Es gibt sogar Anzeichen dafür, dass eine solche gelebte, auf Achtsamkeit, Personenorientierung und Respekt beruhende Grundhaltung die Menschen in der heutigen Zeit besonders anzieht – sowohl Mitarbeiter als auch Kunden/Klienten/Patienten.

Christoph Müller Sie sind auch als Deeskalationstrainer in Einrichtungen des Gesundheitswesens unterwegs. Was hat sich (langfristig) dadurch geändert, dass unter anderem Pflegende im Umgang mit Aggression und Gewalt geschult wurden?

Gernot Walter Hier möchte ich sowohl an der vorherigen Frage anknüpfen als auch auf die im Buch zusammengetragen Erkenntnisse verweisen. Schulungen sind ein essenzieller Bestandteil zu einem besseren Umgang miteinander und zur Gewaltprävention, sowohl der primär-vorbeugenden, der sekundär-krisenbewältigenden als auch tertiär-nachsorgenden. Gerade die Abdeckung aller drei Bereiche ist wichtig. Schulungen, die primär auf Krisenbewältigung ausgerichtet sind, greifen zu kurz und können gar das Phänomen verfestigen – gemäß der Watzlawickschen These, die Lösung ist das Problem …

Dazu kommt, dass Schulungen allzu oft als Alleinlösungsansatz eingekauft werden, anstatt in Zusammenarbeit mit der Führung passende, institutionsbezogene Schulungskonzepte und Lösungsansätze zu entwickeln. Die Literatur zeigt: Schulungen, die nicht von der Führung getragen sind und mit der Organisation vernetzt sind, sind nicht halb so wirksam. Man könnte auch sagen: schlecht eingesetzte Ressourcen.

Hier scheuen sich viele Einrichtungen zu investieren, um hier ein eigenes Konzept aufzubauen.

Zurück zur Ausgangsfrage: ja, ich habe einige Einrichtungen erlebt, bei denen sich vieles grundlegend und nachhaltig geändert hat und die Mitarbeiterschulung, speziell die Ausbildung und Weiterentwicklung eigener Multiplikatoren (Trainer und Berater), zu einem solchen Prozess entscheidend beigetragen hat. Jedoch konnte ich das immer nur erkennen, wenn die Führung genau dies wollte, diesen Prozess initiierte und federführend mitgestaltete.

Christoph Müller Erklärungsmodelle und Erfassungsbögen gehören zum Repertoire, das Sie den Leserinnen und Lesern vorstellen. Dies ist ein deutliches Zeichen dafür, dass Sie im Umgang mit Aggression und Gewalt evidenz-basiert arbeiten wollen. Was macht das Evidence-Based-Nursing in diesem Kontext aus?

Gernot Walter Effektiver Umgang mit Gewalt und Aggression ist immer teambasiert, eine Berufsgruppe alleine, egal welche, kann keine wirksame Haltung und Organisation und keine nachhaltig wirksamen Interventionen aufbauen. Das zumindest lässt sich evidenzbasiert ableiten.

Bei der Evidenz anderer Interventionen und Maßnahmen stoßen wir an Grenzen, zumindest, was die klassische empirische Evidenz mit Randomized Controlled Trials als höchster Güteklasse betrifft. Das zeigt auch die S3-Leitlinie „Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen“ auf.

Wirklich wirksame Lösungsansätze sind vielschichtig, zumindest in Teilen interaktionsorientiert und damit schwerer zu operationalisieren und im naturwissenschaftlichen Sinn aufwendiger zu beforschen. Immerhin gibt es jetzt Forschungsmittel zu einem groß angelegten Projekt der Interventionsforschung zu der Implementierung der S3 Leitlinie.

Viele Einzelfacetten müssen weiter vertieft werden, wie zum Beispiel der Einfluss der Umgebungsfaktoren. Dennoch liegen ausreichend Erkenntnisse vor, um zum Beispiel Neubauten für psychiatrische Stationen deutlich gewaltpräventiver zu gestalten. Auch hier finden die vorhandenen Erkenntnisse schwer in die Praxis. Wie viele Neubauten deutlich zeigen, werden diese schlicht weg ignoriert. Wie das auch anders und sehr erfolgreich gehen kann, zeigt der Neubau der Wiener KAV der psychiatrischen Abteilung in der Rudolfstiftung (das Beispiel wird im Buch beschrieben und mit Fotos dargestellt).

Christoph Müller Aggression und Gewalt sind keine spezifischen Probleme der psychiatrischen Versorgung. Inwieweit unterscheiden sich das Auftauchen von Aggression und Gewalt in den verschiedenen Versorgungsbereichen?

Gernot Walter Die grundlegenden Wirkmechanismen sind die gleichen. Auch die auslösenden Trigger unterscheiden sich im Kern nicht: Ärger, Frustration, Verzweiflung, Hilflosigkeit, Machtlosigkeit, Bedrohungserleben. Unterschiede gibt es in den Situationen, die diese auslösen und wie Eskalationen dann ablaufen.

Im psychiatrischen Feld sind wir sicherlich mehr darauf gefasst und ein Stück besser darauf vorbereitet. Das Problem wird erkannt und dessen Vorhandensein und die Verantwortung der Institution/der Mitarbeiter damit umzugehen vielerorts akzeptiert und mehr oder weniger wirksame Handlungsoptionen daraus abgeleitet. Das war vor 15-20 Jahren noch anders.

In anderen Feldern besteht vielerorts noch eine deutliche Ignoranz bis hin zur Verleugnung sich der Komplexität des Phänomens zu stellen. So sind zum Beispiel Deeskalationsschulungen mittlerweile Pflicht in der Ausbildung von Rettungsassistenten/Rettungssanitätern sowie in der Weiterbildung zur Notfallpflege und ab 2020 auch verpflichtender Bestandteil des neuen Curriculums in der generalisierten Pflegeausbildung in Deutschland. Die aggressionsauslösenden bzw. -verstärkenden Rahmenbedingungen werden dagegen kaum angegangen.

Hier lohnt es sich zu unseren britischen Nachbarn zu schauen, wo Gesundheitseinrichtungen seit ca. zwei Jahrzehnten dazu verpflichtet sind Mitarbeiter in Risikobereichen in Interventionen zum Umgang mit Aggression und Gewalt zu schulen. Die hat zu einem riesigen, lukrativen Markt mit hunderten von Schulungsanbietern geführt, um diesen Bedarf zu decken. Inhalte und Qualität dieser Schulungen waren bislang nicht geregelt und dementsprechend von Inhalt, Umfang und Qualität sehr unterschiedlich (von exzellent bis gefährlich). Zielführend war das nur begrenzt und jeweils dann, wenn die bei den vorherigen Antworten Rahmenbedingungen gegeben waren.

Nun wird es ab dem 1. April 2020 verbindliche Trainingsstandards für Großbritannien gebe, in denen sehr vieles verbindlich geregelt sein wird. Das erstreckt sich von der bedarfsbezogenen Ableitung eines institutionsbezogenen, bedarfsangepassten Trainingskonzepts unter Einbindung der Einrichtung, über verbindliche Inhalte bis hin zu der zu vermittelnden Grundhaltung, die personenorientiert und Menschen- und Behindetertenrechtkonventionskonform ausgerichtet zu sein hat. Die deutschsprachigen Trainerverbände NAGS Deutschland, Österreich und Schweiz sind im Begriff diese Standards ins Deutsche zu übertragen.

Zurück zu den unterschiedlichen Versorgungsbereichen. In unserem Buch gibt es einen großen Abschnitt, der sich mit der spezifischen Situation im Umgang mit Aggression und Gewalt in den unterschiedlichen Settings befasst. Auch diese konnte wir mit der Neuauflage erweitern.

Christoph Müller Der Zusammenhang zwischen Aggression, Gewalt und Umgebungsfaktoren wird immer wieder betont. Schaut man in die Forschung oder in die Fachliteratur, dann wünscht man sich deutlich mehr Input. Sehen Sie dies auch?

Gernot Walter Ja, da stimme ich zu, dass wir hier mehr Input benötigen. Dennoch liegen jetzt schon zahlreiche Erkenntnisse vor, die es in die Praxis zu implementieren gilt. Dies sind nicht immer im Kontext der Gewaltprävention erforscht bzw. entwickelt worden, lassen sich dennoch auf diesen Bereich übertragen, wie Gernot Krämer und ich in unserem Kapitel aufgezeigt haben.

Wo ich in diesem Kontext größeren Bedarf sehe, ist bei der Planung, Umsetzung und auch der Überprüfung/Überwachung von Baumaßnahmen. Wir hatten zum Beispiel in Deutschland in den letzten zehn Jahren zahlreiche Neubauten psychiatrischer Einrichtungen (Kliniken, Wohnheime etc.), bei den die vorhandenen Erkenntnisse kaum bis gar nicht umgesetzt wurden. Ich bin der Auffassung, dass Architekten und Auftraggeber dazu verpflichtet werden sollten, sich sowohl mit Gewaltprävention als auch mit Sicherheitsaspekten bei der Planung von Gesundheitseinrichtungen zu befassen und bestimmte Elemente zu integrieren. Auch die Aufsichtsbehörden und Ministerien sollten hierzu verpflichtet werden. Leider kommt es immer wieder vor, das sinnvolle Planungen (z.B. ausreichende „Verkehrsflächen“, also Platz in Gemeinschaftsbereichen wie Fluren) als nicht notwendig und nicht förderungswürdig zusammengestrichen werden.

Auch hier ist Politik gefragt, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu gestalten. Es muss ja auch ein bestimmter Betrag bei öffentlichen Neubauten in Kunst und Kultur investiert werden. Warum nicht auch in Gewaltprävention?

Christoph Müller Herzlichen Dank für die angenehme Atmosphäre, Herr Walter.

 

Das Buch, um das es geht

Johannes Nau, Gernot Walter & Nico Oud (Hrsg.): Aggression, Gewalt und Aggressionsmanagement – Lehr-und Praxisbuch zur Gewaltprävention für Pflege-, Gesundheits-und Sozialberufe, Hogrefe-Verlag, Bern 2019, ISBN 978-3-456-85845-6, 632 Seiten, 64.95 Euro.

Autor:in

  • Markus Golla

    Studiengangsleiter "GuK" IMC FH Krems, Institutsleiter Institut "Pflegewissenschaft", Diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger, Pflegewissenschaft BScN (Umit/Wien), Pflegewissenschaft MScN (Umit/Hall)