Egal, in welchen psychosozialen Settings alte, kranke und behinderte Menschen versorgt werden – Aggressionen und Gewalt sind ein Thema von Aktualität und großer Brisanz. Die Tatsache, dass dies so ist, führt dazu, dass sich Experten in Forschung und Praxis ständig damit beschäftigen. So wundert es nicht, dass Johannes Nau, Gernot Walter und Nico Oud eine zweite Auflage des Buchs „Aggression, Gewalt und Aggressionsmanagement“ herausgeben können.
Mit dem Buch treffen die Aggressions-und Deeskalationsexperten nicht nur den Kern der inhaltlichen Bedarfe von professionell Tätigen und Institutionen. Nau, Walter und Oud halten Schritt mit den vielen Erkenntnissen zu Zwang und Aggression in psychosozialen Handlungsfeldern. Beispielsweise hat eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Deutschland im Juli 2018 deutliche Worte zu freiheitsentziehenden Maßnahmen und Intensivüberwachungen bei Menschen in seelischen Krisen gefunden. Die Autorinnen und Autoren des informativen und impulsgebenden Buchs greifen diese einschneidende Rechtsprechung an vielen Stellen auf.
Es sind die grundlegenden Nachdenklichkeiten, die den Reiz des Handbuchs ausmachen. So regen Stefan Hedderich und Gernot Walter ein Nachdenken über die Ethik im Gesundheitswesen an. Sie stellen unter anderem fest, dass jeder Mitarbeiter im Gesundheits-und Sozialwesen mit angespannten, bedrohlichen oder gewalttätigen Situationen konfrontiert werden. Es gebe keine Möglichkeit, sich nicht dazu zu verhalten. Handeln oder Unterlassen habe immer eine Auswirkung. Wer glaube, eine Entscheidung später fällen zu können, habe die Entscheidung gefällt, „dass man die Entwicklung der momentanen Situation laufen lässt“ (S. 469).
Dies zeigt, dass ein Entrinnen aus ethischen Dilemmata für psychosozial Tätige kaum möglich ist. In der Banalität dieser Aussage verbirgt sich letztendlich die Brisanz, der sich die Menschen in der Praxis bewusst sein müssen. Ähnlich klar zeigen sich die Herausgeber in einem gemeinsamen Beitrag über organisationsbezogene Interventionen. Auch dort steckt in der Schlichtheit der Feststellungen der eigentliche Sprengstoff der Inhalte. So beschreiben Nau, Oud und Walter, dass Organisations-und Teamkultur wichtige Elemente gelingenden Umgangs mit Aggression und Gewalt seien. Konkret: „Es muss ein klarer organisatorischer Rahmen bestehen, dessen Regeln transparent und verlässlich snd, ohne völlig starr zu sein und so ausreichend und situationsangepasst Raum für Autonomie und Individualität lassen“ (S. 495).
Es gibt wenige Themen zu Aggression und Gewalt, die in dem Buch nicht auftauchen. Nau, Oud und Walter werden der Komplexität der Aufgaben im Alltag gerecht – genauso wie die Autorinnen und Autoren. Was der psychosoziale Praktiker als Input oder Unterstützung zu Aggressionen und Gewalt braucht, er oder sie findet es in dem Handbuch. Die Risiko-Einschätzung ist genauso ein Thema wie die unterschiedlichen Interventionen. Aggressionsereignisse aus der Perspektive unterschiedlicher Settings werden angesprochen, gleichfalls die Prävention psychischer Folgen und Nachsorge nach Gewaltereignissen.
Natürlich werden beim eigenen Durcharbeiten dieses umfangreichen Werkes vermeintliche „Schwächen“ deutlich. Diese liegen nicht bei Autoren oder Herausgebern. Vielmehr muss es eine gemeinsame Aufgabe von Praktikern und Forschern sein, die Lücken noch auszufüllen, die aus Erfahrungen in der Praxis offenbar werden. Insofern freue ich mich auf die dritte Auflage. Sie wird bestimmt kommen.
Johannes Nau / Gernot Walter / Nico Oud (Hrsg.): Aggression, Gewalt und Aggressionsmanagement, Hogrefe-Verlag, Bern 2019, ISBN 978-3-456-85845-6, 632 Seiten, 64.95 Euro.