Achtsamkeit scheint in der Gegenwart ein Modethema zu sein. Der Psychotherapeut Matthias Hammer zeigt im Gespräch mit Christoph Müller, wie entscheidend die Einübung in die Achtsamkeit für die Bewältigung des Alltags ist.
Christoph Müller Die Achtsamkeit steht im Zentrum Ihres psychotherapeutischen Wirkens. Was heißt dies für den Alltag? Welche Rolle sollte Achtsamkeit in einem therapeutischen Prozess spielen?
Matthias Hammer Achtsamkeit hat zunächst etwas mit einer inneren Haltung zu tun. Im Kern geht es um die aufmerksame Präsenz und freundliche Annahme. Diese Haltung ist zutiefst menschlich und ermöglicht Mitgefühl, Respekt und Verständnis. Dies tut jeder menschlichen Begegnung gut und ist für jeden therapeutischen Prozess die Basis für alles weitere. Eine Haltung der Achtsamkeit schafft einen Orientierungsrahmen, an dem ich mich orientieren kann. Wenn es beispielsweise für mich sehr wichtig ist, mit meiner Aufmerksamkeit sehr präsent zu sein, wenn ich mit einer Klientin arbeite. Also eben nicht abgelenkt durch Bürokratie, schweifende Gedanken oder Multitasking zu sein.
Vor diesem Hintergrund ist Achtsamkeit inzwischen eine sehr gut untersuchte wissenschaftliche Methode, die ihre Anwendung in vielen Bereichen findet – im Umgang mit Gedanken mit Gefühlen, im Umgang mit Depression, Ängsten, Borderline. Dabei werden Klientinnen und Klienten angeleitet, Achtsamkeit als Methode für sich zu erlernen, um mit sich selbst, den eigenen leidvollen Gedanken und Gefühlen besser umgehen zu können und aus negativen Gewohnheiten auszusteigen.
Christoph Müller Eine achtsame Haltung wünschen Sie sich auch für professionell Tätige in helfenden Berufen. Welche Bedeutung hat diese achtsame Haltung für Menschen, die mit von seelischen Krisen Betroffenen arbeiten? Wie kann in der somatischen Versorgung auf Achtsamkeit geachtet werden?
Matthias Hammer Ich war in den letzten Monaten selbst als Patient in einer Klinik und musste mich einer OP unterziehen. Mir haben die Präsenz, die freundliche Fürsorge und das echte Interesse sowie die Geduld der Ärzte und Pflegenden sehr gut getan. Darin würde ich die Kernelemente einer achtsamen Haltung sehen. Wenn wir krank und verletzlich sind, dann ist diese Haltung ein entscheidender Beziehungsfaktor, der einfach gut tut und vor allem in der Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen hoch wirksam ist. Eine freundliche, annehmende, achtsame Haltung ermöglicht, dass das Bindungs- und Beruhigungssystem der Patientinnen und Patienten angesprochen wird. Das ist sowohl in seelischen Krisen als auch bei somatischen Erkrankungen ein wichtiger Faktor, um die Stressreaktion zu beruhigen und Selbstheilungskräfte zu mobilisieren.
Christoph Müller Im Alltag begegnen uns ständig Belastungen bis hin zum Stress. Ausschalten können wir diese Momente wohl kaum. Was raten Sie parallel zur Achtsamkeit den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, damit sich Stressbelastungen nicht chronifizieren?
Matthias Hammer Wir sind alle ausgestattet mit der Stress- und Alarmreaktion. Es gibt kein Leben ohne Stress. Das ist die Ausgangslage. Wir sollten dabei unterscheiden lernen, ob wir beim Stresserleben in unserem Toleranzfenster optimaler Erregung bleiben oder in ständiger Überforderung leben. Im optimalen Belastungsniveau haben wir weiterhin das Gefühl der Kontrolle, wir fühlen uns nur zeitweise gestresst, haben aber noch ausreichend Zeiten zur Erholung. Wenn die Stressbelastung chronisch wird, dann entwickeln wir psychische oder somatische Symptome. Die meisten fangen an, schlecht zu schlafen, bekommen Rückenschmerzen, Bluthochdruck oder essen zu viel.
Es ist sehr wichtig zu erkennen, wann wir dieses Toleranzfenster optimaler Erregung verlassen. Wenn wir das nicht erkennen, droht die Gefahr eine stressbedingte Erkrankung oder Störung zu entwickeln. Und dann sollten wir flexibel herausfinden, was hilfreich ist für die Bewältigung der Situation bzw. was wir brauchen, um wieder in unser optimales Belastungsniveau zu gelangen.
Die Situation kann erfordern, dass wir Nein sagen oder uns abgrenzen, weil zu viele Aufgaben an uns herangetragen werden. Es kann auch sein, dass es erforderlich ist, eine Aufgabe engagiert zu Ende zu bringen, z.B. zur Vorbereitung auf eine Prüfung. Und es kann sein, dass wir Unterstützung von außen benötigen. Stressbewältigung in diesem Sinne erfordert eine hohe innere Flexibilität und gute Selbstwahrnehmung.
Grundsätzlich ist es hilfreich, gute Gewohnheiten oder auch Rituale im Alltag zu etablieren, die uns helfen zu entspannen, Freude zu erleben und uns ermöglichen, wieder in Kontakt zu kommen mit uns selbst. Das kann der tägliche Spaziergang mit dem Hund sein, oder die Walkingrunde mit der Freundin. Es kann die Musik, das gute Buch etc. sein.
Christoph Müller Sie ermuntern die Gegenwartsmenschen, die eigenen Gefühle achtsam wahrzunehmen. Sie ziehen einen Vergleich zu einem bewussten Essen einer Kirsche. Ist dies im Alltag nicht zu viel verlangt?
Matthias Hammer Gefühle, Stimmungen, Empfindungen entstehen und vergehen in jeder Situation unseres Lebens. Unser Gehirn können wir vergleichen mit einer Harfe oder einem Klavier, das bei Berührung ins Schwingen und Tönen gerät. Es ist für uns hilfreich, diese Schwingungen und Gefühle wahrzunehmen, sie sagen uns viel über uns selbst und unsere Bedürfnisse aus. Wenn wir im Kontakt mit unseren Gefühlen sind, fühlen wir uns lebendig mit dem Leben verbunden. Abgetrennt, entfremdet von unseren Gefühlen fühlt sich das Leben eher bedeutungslos oder gar sinnlos an. Studien weisen darauf hin, dass Menschen, die ihre Gefühle wenig wahrnehmen, ein vierfach erhöhtes Risiko haben, an einer Depression zu leiden. Viele Menschen haben es verlernt, ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen, sie zu tragen und zu verarbeiten. Es scheint in unsere Gesellschaft nicht mehr selbstverständlich zu sein. Wir wollen glücklich sein und mit den anderen Gefühlen, Angst, Trauer oder Scham, wollen wir am liebsten nichts zu tun haben. Es lohnt sich immer wieder in Kontakt zu kommen mit dem eigenen körperlichen und emotionalen Erleben.
Christoph Müller Die Haltung, mit der wir Menschen entgegentreten, ist ein Schlüsselmoment, um Menschen zu Kurswechseln im Leben ermutigen zu können. Als psychosozial Tätige haben wir alle Mühe, den eigenen Kopf über Wasser zu halten. Was können Sie Kolleginnen und Kollegen aus der psychiatrischen, aber vor allem auch aus der somatischen Versorgung mit auf den Weg geben, damit das eigene Überleben gesichert bleibt?
Matthias Hammer Das ist gar nicht so einfach in ein paar Worten zu sagen. Ich glaube, es ist wichtig, einen Blick auf das System bzw. die Institution zu werfen, in dem jede und jeder Einzelne arbeitet. Und sich dann selbst zu fragen, werde ich an meinem Arbeitsplatz gesehen, wertgeschätzt, habe ich das Gefühl etwas bewirken zu können? Oder fühle ich mich dem System und den Arbeitsbedingungen hilflos ausgesetzt, nicht gesehen und sehe keine Möglichkeiten etwas zu bewirken? Je ausgeprägter unser Hilflosigkeitsgefühl am Arbeitsplatz ist, desto höher ist das Burnout-Risiko. Aus der Burnout-Forschung wissen wir, dass ein gewisses Maß an Eigenwilligkeit ein wichtiger Schutzfaktor ist. Und ich rate allen im psychosozialen Bereich Tätigen, sehr selbstbewusst zu sein. Inzwischen haben Institutionen so große Schwierigkeiten, ihre Stellen zu besetzten, so dass die meisten Beschäftigten sich heraussuchen können, wo sie arbeiten wollen. Wenn es nur noch darum geht, den Kopf über Wasser zu halten, es also ums Überleben geht, dann rate ich über mögliche Alternativen nachzudenken. Und noch ein letzter Tipp: Die meisten haben den Beruf gewählt, um etwas zu bewirken. Achten Sie darauf, was Sie bewirken können, für die Menschen, mit denen Sie arbeiten. Selbstwirksamkeit ist ein weiterer Schutzfaktor.
Christoph Müller Kann das Gesundheitssystem nur überleben, wenn es sich als achtsames versteht?
Matthias Hammer Die Entwicklungen im Gesundheitssystem sind aus meiner Sicht in den vergangenen Jahren vor allem durch drei Faktoren geprägt: Ökonomisierung, Bürokratisierung und Digitalisierung. Diese Faktoren führen zu einer enormen Beschleunigung und Verdichtung der Arbeitsbedingungen. Die große Gefahr, die ich für Patienten und Beschäftigte sehe, ist eine zunehmende zwischenmenschliche Entfremdung. Ich glaube, die Achtsamkeitsbewegung greift ein zutiefst menschliches Bedürfnis auf, nämlich, in einem lebendigen Kontakt, verbunden mit sich und anderen zu sein. Achtsam und präsent zu sein ist in vielerlei Hinsicht das Gegenteil von Entfremdung. Es fällt immer schwerer, wenn die Fallzahlen und der Bürokratieaufwand steigen. Achtsamkeit kann strukturelle Probleme nicht lösen, wie Unterbesetzung oder überhöhte Fallzahlen. Es sollte nicht zum Feigenblatt für Missstände verkommen. Ich glaube, Achtsamkeit ist enorm hilfreich, um immer wieder mit sich selbst in Kontakt zu kommen. Aber ich glaube, das Gesundheitssystem sollte viel Energie, Geld und Forschung darauf verwenden, was Menschen heilt und hilft. Und für Menschen mit psychischen Problemen ist einer der wichtigsten und heilsamsten Faktoren die Beziehung. Offene, präsente und achtsame Mitarbeiter sind also ein sehr wichtiger heilsamer Faktor für das Gesundheitssystem.
Christoph Müller Ganz lieben Dank für den Austausch.
Die Bücher, um die es geht
Hammer, M. Plößl, I.: Irre Verständlich: Menschen mit psychischer Erkrankung wirksam unterstützen. Köln: Psychiatrie-Verlag.
Hammer, M. Plößl, I.: Irre Verständlich: Methodenschätze. Wirksame Ansätze für die Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen. Köln: Psychiatrie-Verlag.
Hammer, M.: Denke groß, fang klein an: Mit Mini-Schritten schlechte Gewohnheiten ablegen und den Alltag meistern. Mit Micro Habits zum Erfolg. München: mvg.
Hammer, M.: SBT: Stressbewältigungstraining für psychisch kranke Menschen: Ein Handbuch zur Moderation von Gruppen. Köln: Psychiatrie-Verlag.
Fortbildungen und Seminare
www.irreverstaendlich.de